β-Nitrostyrol

chemische Verbindung

β-Nitrostyrol ist ein aromatisches Nitroalken, das überwiegend in der trans-Konformation vorliegt und durch eine Henry-Reaktion aus Benzaldehyd und Nitromethan einfach zugänglich ist.[8] Als α,β-ungesättigte Nitroverbindung ist β-Nitrostyrol ein geeigneter Akzeptor für enantioselektive Michael-Additionen an Michael-Donatoren, wie z. B. Aldehyde oder Ketone.[9]β-Nitrostyrol findet in Synthesevarianten der γ-Aminobuttersäure-Derivate Baclofen und Phenibut[10] sowie als Vorstufe für Phenethylamin und seine Derivate Verwendung.

Strukturformel
Strukturformel von β-Nitrostyrol
trans-β-Nitrostyrol
Allgemeines
Nameβ-Nitrostyrol
Andere Namen
  • trans-β-Nitrostyrol
  • trans-1-Nitro-2-phenylethen
  • (E)-(2-Nitrovinyl)benzol
  • β-Nitrostyrol
SummenformelC8H7NO2
Kurzbeschreibung

hellgelbes bis gelbes kristallines Pulver[1] bzw. prismatische Kristalle[2][3]

Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer
EG-Nummer203-066-0
ECHA-InfoCard100.002.788
PubChem7626
ChemSpider7344
WikidataQ15633930
Eigenschaften
Molare Masse149,15 g·mol−1
Aggregatzustand

fest

Schmelzpunkt

55–58 °C bei 1,013 hPa[4]

Siedepunkt

250–260 °C[4]

Löslichkeit

praktisch unlöslich in Wasser,[5] löslich in Ethanol und Aceton, sehr gut löslich in Diethylether, Chloroform und Kohlenstoffdisulfid[6]

Sicherheitshinweise
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung[7]
Gefahrensymbol

Achtung

H- und P-SätzeH: 315​‐​319​‐​335
P: 302+352​‐​304+340​‐​305+351+338[7]
Toxikologische Daten

33 mg·kg−1 (LDLoMausi.p.)[5]

Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.

Vorkommen und Darstellung

Eduard Simon erhielt bereits im Jahr 1839 beim Destillieren von flüssigem Storaxharz mit konzentrierter Salpetersäure ein stark nach Zimt riechendes und in „prachtvollen Prismen“ erstarrendes „ätherisches Öl“, das er Nitrostyrol nannte.[2]

August Wilhelm von Hofmann[11] beschrieb und bestätigte die nach der Vorschrift von E. Simon erhaltene Substanz als Nitrostyrol.

Die erste gezielte Synthese von β-Nitrostyrol wurde 1883 mit der Umsetzung von Benzaldehyd mit Nitromethan in Gegenwart von Zinkchlorid (saure Katalyse) berichtet.[12]

Johannes Thiele stellte β-Nitrostyrol erstmals 1899 in einer später als Henry-Reaktion benannten Nitroaldolkondensation durch basische Katalyse mittels Kaliummethanolat in „ausgezeichneter Ausbeute“ als gelbliche Prismen dar.[3]

Henry-Reaktion zu β-Nitrostyrol

Der in der Reaktion von Benzaldehyd mit Nitromethan intermediär entstehende Nitroalkohol dehydratisiert spontan unter Bildung des α,β-ungesättigten Nitroalkens.[13]

Mit Amylamin als Katalysator erhielt Emil Knoevenagel β-Nitrostyrol in 75 %iger Ausbeute.[14]

Eine präparativ einfache Laborvorschrift[15] mit Natronlauge als Katalysator gibt eine Ausbeute von 80 bis 83 % an.

Die Verwendung von Methylamin oder Ammoniumacetat in Essigsäure als Katalysator[16] bringt keine Vorteile gegenüber Alkalihydroxiden oder -alkoholaten.

Die Nitroaldol-Reaktion in der ionischen Flüssigkeit 2-(Hydroxyethyl)ammoniumformat liefert in Kleinansätzen β-Nitrostyrol in 90 %iger Ausbeute.[17]

Nitrierung von Styrol mit Stickstoffmonoxid NO in 1,2-Dichlorethan EDC und Dehydratisierung des gleichzeitig entstehenden Nitroalkohols durch Erhitzen mit saurem Aluminiumoxid liefert in Kleinstansätzen (1 mmolar) β-Nitrostyrol in 95 %iger Ausbeute.[18]

Nitrierung von Styrol zu β-Nitrostyrol

Eigenschaften

trans-β-Nitrostyrol bildet gelbe Kristalle

β-Nitrostyrol ist eine gelbe kristalline Substanz, die aus Ethanol beim Abkühlen in rhombischen Prismen kristallisiert[2] und sich in vielen organischen Lösungsmitteln löst. Die Verbindung „riecht in höchstem Maße nach Zimmt“ und besitzt „einen süßen, aber äußerst brennenden Geschmack und zu Thränen reizenden Geruch“.[11] Die Dämpfe heißer β-Nitrostyrol-Lösungen wirken äußerst reizend auf Nase und Augen; die Gesichtshaut reagiert besonders empfindlich auf die Festsubstanz.[15]

Anwendungen

Hydrierungen zum β-Phenylethylamin

Die vollständige Hydrierung von β-Nitrostyrol mit Wasserstoff an einem Palladium-Kontakt[19] liefert in 84%iger Ausbeute β-Phenylethylamin, gegenüber 88 % bei der Reduktion mit Boran-Tetrahydrofuran-Komplex,[20]

Hydrierung von β-Nitrostyrol

während die Hydrierung mit Lithiumaluminiumhydrid[21] lediglich in 60%iger Ausbeute zum Phenylethylamin führt, der Stammverbindung pharmakologisch wirksamer, insbesondere psychotroper Phenylethylamine.

Diels-Alder-Reaktionen

Als aktiviertes Alken und Dienophil reagiert β-Nitrostyrol mit Dienen, wie z. B. 1,3-Butadien oder 1,3-Diphenylisobenzofuran in einer Diels-Alder-Reaktion[22] mit hohen Ausbeuten zu den entsprechenden Addukten.

Diels-Alder-Reaktionen mit β-Nitrostyrol

Mit Cyclopentadien entsteht in 85%iger Ausbeute ein Phenyl-2-nitronorbornen.[23]

Diels-Alder-Reaktion von β-Nitrostyrol mit Cyclopentadien

Michael-Reaktionen

Als α,β-ungesättigte Nitroverbindung eignet sich β-Nitrostyrol als ausgezeichneter Akzeptor in Michael-Additionen.[9]Mit Meldrumsäure reagiert β-Nitrostyrol in Gegenwart von Hydrotalkit in 95%iger Ausbeute zum Michael-Additionsprodukt,[10]

Reaktion von β-Nitrostyrol mit Meldrumsäure

das beim Erhitzen in Ethanol unter Abspaltung von Aceton und CO2 in 85%iger Ausbeute 3-Phenyl-4-nitrobuttersäureethylester – eine γ-Nitrobuttersäureverbindung – bildet. Der Nitrobuttersäureester wird mit Natriumborhydrid in Gegenwart von Nickel(II)-chlorid-hexahydrat in 4-Phenylpyrrolidin-2-on (82 %) überführt, das mit 6M Salzsäure in das γ-Aminobuttersäure-(GABA)-Derivat 4-Amino-3-phenylbuttersäure (als Hydrochlorid) Phenibut gespalten wird.

Synthese von Phenibut

Die gleiche Reaktionsfolge mit 4-Chlor-β-nitrostyrol als Startverbindung liefert das als Muskelrelaxans wirksame γ-Aminobuttersäurederivat Baclofen.

Bei Verwendung chiraler Katalysatoren, wie z. B. Chinin-Alkaloiden,[24] Prolinol-Derivaten[25] oder Thioharnstoffen[26] können mit Aldehyden – selbst mit dem schwachen Nukleophil Acetaldehyd[27]

Enantioselektive Addition an β-Nitrostyrol

– und 1,3-Dicarbonylverbindungen – auch mit dem sterisch stark behinderten Dipivaloylmethan[28] – Michael-Additionsprodukte in praktisch quantitativer Ausbeute und Enantiomerenüberschüssen von bis zu 99 % dargestellt werden.

Reaktion von β-Nitrostyrol mit Malonester

Baylis-Hillman-Reaktion

Die Baylis-Hillman-Reaktion[29] eignet sich zur basenkatalysierten C-C-Verknüpfung zwischen Aldehyden (bzw. Elektrophilen) und aktivierten Alkenen in Gegenwart von Basen, wie z. B. DABCO, wobei hochfunktionalisierte Produkte, wie z. B. α-substituierte Allylalkohole, entstehen.In Gegenwart von Diarylthioharnstoffen und der Base DMAP reagiert der Aldehyd Glyoxylsäureethylester mit β-Nitrostyrol in hohen Ausbeuten zu 2-Hydroxy-3-nitro-4-arylbut-3-enoaten.[30]

Baylis-Hillman-Reaktion mit β-Nitrostyrol

Barton-Zard-Reaktion

Die nach Derek H. R. Barton benannte Barton-Zard-Reaktion,[31][32] bei der β-Nitrostyrol(derivate) mit Alkylisocyanoacetaten bzw. Tosylmethylisocyanid TosMIC in Gegenwart einer starken Base, wie z. B. n-Butyllithium reagieren, erzeugt substituierte Pyrrole.[33]Aus β-Nitrostyrol entsteht mit dem Isocyanid TosMIC und Ethylchlorformiat in Gegenwart der polymerfixierten Superbase[34] PS-BEMP das 4-Nitro-3-phenyl-1H-pyrrol-2-ethylcarboxylat in 76 %iger Ausbeute.

Barton-Zard-Reaktion mit β-Nitrostyrol

3,4-Diarylpyrrole sind als Ausgangsverbindungen für arylsubstituierte Porphyrine von Interesse und können durch Reduktion von β-Nitrostyrol mit Titan(III)-chlorid in wässrigem 1,4-Dioxan in bescheidener Ausbeute (ca. 50 %), jedoch präparativ sehr einfach dargestellt werden.[35]

Bildung von 3,4-Diphenylpyrrol durch Reduktion von β-Nitrostyrol

Weitere Pyrrolsynthesen unter Verwendung von β-Nitrostyrol(derivaten) sind beschrieben.[36]

Wirkstoffe auf der Basis von β-Nitrostyrol

Additionsprodukte von Dithiocarbamaten an β-Nitrostyrol wurden synthetisiert und auf ihre Wirksamkeit gegen Bakterien und Pilze geprüft.[37]

Dithiocarbamat-Addition an β-Nitrostyrol

β-Nitrostyrol und seine halogen- bzw. methylsubstituierten Derivate wurden auf antibakterielle Eigenschaften hin untersucht, da sie gegenüber Thiolen aus cysteinreichen Enzymen hohe Reaktivität in der Michael-Addition zeigen.[38][39] β-Nitrostyrol selbst ist allerdings wenig aktiv.

In Gegenwart von Natriummethanolat-Spuren bildet sich aus β-Nitrostyrolen und zwei Äquivalenten Dimethylformamid-dimethylacetal in DMF in mäßigen Ausbeuten (bis 40 %) 1,3,5-Triphenylbenzole.[40]

Anmerkung

Fälschlicherweise wird β-Nitrostyrol gelegentlich als Vorstufe für den Farbstoff Indigo angegeben. Dabei wird jedoch das von Ludwig Gattermann[41] irrtümlich als Zwischenstufe vermutete 2-Nitrostyrol mit β-Nitrostyrol verwechselt.[42]

Übersichtsartikel

  • Konjugierte Nitroalkene als Zwischenprodukte[43]
  • Synthesen mit konjugierten Nitroalkenen[44]
  • Fortschritte bei der Synthese konjugierter Nitroalkene[45]

Einzelnachweise