Astwerk

Formen knorriger, verschlungener und blattloser Äste verwendendes Ornament

Astwerk (engl. branch tracery, branchwork; frz. bois mort, branchage; it. intreccio di rami) ist ein architekturbezogenes Ornament der Spätgotik und nordalpinen Renaissance, das die Form knorriger, verschlungener und blattloser Äste hat. Astwerk war besonders in der mitteleuropäischen Kunst zwischen 1480 und 1520 verbreitet und kommt in allen Gattungen, also auch in Skulptur, Goldschmiedekunst, Graphik und Malerei, vor.

Astwerk am Taufstein des Wormser Doms
Astwerk in der Form von Maßwerk am Ulmer Münster, um 1475

Geschichte und Bedeutung

Astwerkportal der ehem. Klosterkirche zu Chemnitz (1525)

Das Astwerk hat sich formal vermutlich „auf der Ebene zwischen Architektur und Kunstgewerbe“[1] (Georg Dehio) aus der Holzschnitzerarbeit entwickelt. Seinen Ursprung allerdings hat die nicht nur kunstvolle, sondern auch bedeutungsvolle Stilisierung von Ästen als vegetabile Ornamentform in der architekturtheoretischen Auseinandersetzung zum Ursprung der Architektur aus der Natur.[2] In jüngster Zeit wurde die programmatische Verbindung der vegetabilen Architekturformen des Astwerks mit den Theorien des frühen Renaissance-Humanismus über die Entstehung der Architektur erkannt.[3]

Parallel zu dem vermehrten Auftreten von Astwerk in der Kunst seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts finden sich in der Traktatliteratur Hinweise auf einen architekturtheoretischen Hintergrund dieser Gestaltungsform, die an Vitruvs Urhütte erinnert. In De architectura libri decem stellte Vitruv ein Modell zur Entstehung der Architektur aus der Natur auf, nach dem die ersten Menschen ihre Behausungen aus vertikalen Astgabeln mit darübergelegten Ästen errichtet hätten.[4] Auch Filarete griff diese Idee in seinem Manuskript Trattato di Archittetura auf, in welchem er die Entstehung des Bogens als erste Türform erklärt.[5] Im frühen 16. Jahrhundert finden sich ähnliche Erklärungen unter anderem bei Raffael.[6]

Die formale Herleitung des gotischen Spitzbogens aus zusammengebundenen Ästen von noch nicht gefällten Bäumen findet eine historische Grundlage in TacitusGermania. Dieser berichtet, die Germanen hätten ihre Götter in den Wäldern verehrt.[7] Die Besonderheiten der nordalpinen gotischen Architekturspitzbogige Gewölbe in Analogie zum Blätterdach der germanischen Haine – erfahren durch Tacitus eine Deutung als eigene, nationale Antike.[8] Eine entscheidende Rolle für die Tacitus-Rezeption durch deutsche Gelehrte spielte Kardinal Francesco Todeschini-Piccolomini (1439–1503), der im Besitz der Germania-Ausgabe seines Onkels, Papst Pius II., war. Mehrere Abschriften von diesem Exemplar fanden via Regensburg ihren Weg über die Alpen.[9]

Nachblüten

Eine erste Nachblüte erfuhr Astwerk im 18. Jahrhundert in Porzellankleinplastik und bei Wanddekorationen. Eine weitere Nachblüte erfolgte auch als natürliches Astwerk bei Möbeln[10] und in Naturholz in Parkanlagen bei Kleinarchitekturen an Borkenhäuschen[2] bzw. Wurzelhütten und bei Geländern[11]. Diese Bauteilformen wiederum wurden dann seit dem 19. Jahrhundert auch in Gusseisen[12] und im 20. Jahrhundert in Beton[13] übertragen.

Beispiele

In der nordalpinen Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts wurden architektonische Elemente häufig durch Astwerk ersetzt. Besonders bei Steinskulptur erhält die Gegenüberstellung von architektonischen und natürlichen Elementen, wie Astwerk, eine weitere Ebene. Zunächst wird ein hölzerner Ast in Stein nachgeahmt, der dann wiederum ein Bauteil ersetzt.

Ein frühes Beispiel hierfür aus der Architektur sind die Astrippen im Westchor des Eichstätter Doms von 1471. Dort ist den architektonischen Rippen ein Rundstab aus Astwerk vorgelegt. Als Ideengeber kann hier Wilhelm von Reichenau, Humanist und Bischof von Eichstätt, angenommen werden. Wilhelm v. Reichenau hatte zusammen mit Johannes Pirckheimer, dem Vater Willibald Pirckheimers, in Padua studiert und stellt einen typischen frühen Vertreter des frühen Humanismus in Deutschland dar. In Johannes Pirckheimers Bibliothek befand sich auch eine Abschrift der Germania, die dieser vermutlich schon zu Studienzeiten in den 1460er Jahren erworben hatte.[14]

In Eichstätt befindet sich mit der sogenannten „schönen Säule“ von 1489 im Mortuarium des Doms ein weiteres, späteres Beispiel für die Verwendung von Astwerk. Zugleich handelt es sich bei diesem Pfeiler mit gedrehtem Schaft um ein frühes Beispiel für die Wiederaufnahme romanischer Bauformen in der Architektur des 15. Jahrhunderts. Die als spezifisch nordalpine Antike verstandene Romanik wurde zunächst in der niederländischen Malerei der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts für die Darstellung antiker Bauwerke verwendet und ab etwa 1470 auch als Anregung für neue Architekturmotive rezipiert.[15]

Ein Beispiel für die Verknüpfung von architektonischer und vegetabiler Form ist Tilman Riemenschneiders Heilig-Blut-Altar (1501/05). Hier werden die kielbogenförmigen Baldachine von ineinander verschlungenen Ästen gebildet, die wiederum von einer architektonischen Fiale bekrönt sind. Auch in der Architektur wurden gekappte Rippen, gedrehte Pfeiler oder Säulen und schiefe Gewölbe virtuos inszeniert. Diese 'Manierismen' brachen bewusst mit der erwartbaren Ordnung und mit der Nachvollziehbarkeit des architektonischen Systems.[16] Zu dem romanisch-antiken Pfeiler im Eichstätter Mortuarium passt das Astwerk als weiterer Verweis auf die historische Vorzeit bzw. den Ursprung der Architektur selbst.

In ähnlicher Weise verbindet auch das 1525 von Franz Maidburg geschaffene, monumentale Nordportal der Klosterkirche der Benediktiner in Chemnitz vorgotische Formen und Astwerk. Sowohl die Rundbögen, die Ornamentik als auch das Figurenprogramm mit den Stiftern des 12. Jahrhunderts (Kaiser Lothar III.) verweisen hier auf die hochmittelalterliche Gründung des Klosters und betonen das Alter und Ehrwürdigkeit der Anlage.[17]Auch Bramantes Baumsäulen im Kreuzgang von S. Ambrogio in Mailand sind eine solche Umsetzung des architekturtheoretischen Diskurses. Eine architektonische Ordnung aus Astwerk, die vermutlich graphischen Vorlagen aus der Traktatliteratur folgte, besaß auch das Ingolstädter Donautor (Mitte 16. Jahrhundert, 1877 abgebrochen[18]).

Galerie

Commons: Astwerk – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Siehe auch

Nachweise

Literatur

(alphabetisch nach Autorennachnamen)

  • Paul Crossley: The Return to the Forest: Natural Architecture and the German Past in the Age of Dürer. In: Thomas W. Gaehtgens (Hrsg.): Künstlerischer Austausch, Akten des 28. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte. Band 2, Berlin 1993, S. 71–80.
  • Hubertus Günther: Das Astwerk und die Theorie der Renaissance von der Entstehung der Architektur. In: Michèle-Caroline Heck, Fréderique Lemerle, Yves Pauwels (Hrsg.): Théorie des arts et création artistique dans l’Europe du Nord du XVIe au début du XVIII siècle, Villeneuve d’Ascq (Lille). 2002, S. 13–32. Online-Version
  • Étienne Hamon: Le naturalisme dans l'architecture française autour de 1500. In: Monique Chatenet, Krista De Jonge, Ethan Matt Kavaler, Norbert Nussbaum (Hrsg.): Le Gothique de la Renaissance, actes des quatrième Rencontres d'architecture européenne, Paris, 12-16 juin 2007. (= De Architectura. 13). Paris 2011, S. 329–343.
  • Stephan Hoppe: Northern Gothic, Italian Renaissance and beyond. Toward a 'thick' description of style. In: Monique Chatenet, Krista De Jonge, Ethan Matt Kavaler, Norbert Nussbaum (Hrsg.): Le Gothique de la Renaissance. Actes des quatrième Rencontres d'architecture européenne, Paris, 12 - 16 juin 2007. Paris 2011, S. 47–64. Online-Version auf ART-dok
  • Hanns Hubach: Johann von Dalberg und das naturalistische Astwerk in der zeitgenössischen Skulptur in Worms, Heidelberg und Ladenburg. In: Gerold Bönnen, Burkard Keilmann (Hrsg.): Der Wormser Bischof Johann von Dalberg (1482–1503) und seine Zeit. (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte. Band 117). Mainz 2005, S. 207–232. Online-Version auf ART-dok
  • Hanns Hubach: Zwischen Astwerk und Feston. Bemerkenswertes zum Epitaph des kurpfälzischen Hofgerichtssekretärs Paul Baumann von Oedheim ( 1488). In: Hanns Hubach, Barbara von Orelli-Messerli, Tadej Tassini (Hrsg.): Reibungspunkte. Ordnung und Umbruch in Architektur und Kunst. Festschrift für Hubertus Günther. (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte. Band 64). Petersberg 2008, S. 115–122. Online-Version auf ART-dok
  • Ethan Matt Kavaler: On Vegetal Imagery in Renaissance Gothic. In: Monique Chatenet, Krista De Jonge, Ethan Matt Kavaler, Norbert Nussbaum (Hrsg.): Le Gothique de la Renaissance, actes des quatrième Rencontres d'architecture européenne, Paris, 12-16 juin 2007. (= De Architectura. 13). Paris 2011, S. 298–312.
  • Hans Koepf, Günther Binding: Bildwörterbuch der Architektur (= Kröners Taschenausgabe. Band 194). 4. überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-520-19404-6 (Digitalisat auf moodle.unifr.ch, abgerufen am 24. Dezember 2023), S. 33 f.: Astwerk.
  • Hartmut Krohm: Der „Modellcharakter“ der Kupferstiche mit dem Bischofsstab und Weihrauchfaß. In: Albert Châtelet (Hrsg.): Le beau Martin. Etudes et mises au point. Colmar 1994, S. 185–207.
  • Ernst-Heinz Lemper: Das Astwerk. Seine Formen, sein Wesen und seine Entwicklung. Leipzig 1950.
  • Lexikon der Kunst. Bd. 1, VEB E. A. Seemann, Leipzig 1987, ISBN 3-363-00044-8, S. 314: Astwerk.
  • Walter Paatz: Das Aufkommen des Astwerkbaldachins in der deutschen spätgotischen Skulptur und Erhard Reuwichs Titelholzschnitt in Breidenbachs „Peregrinationes in terram sanctam“. In: Siegfried Joost (Hrsg.): Bibliotheca docet. Festgabe für Carl Wehmer. Amsterdam 1963, S. 355–368.
  • Hans Wentzel: Astwerk. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte. Band 1, Stuttgart 1937, Sp. 1166–1170. (Abschrift auf rdklabor.de, abgerufen am 1. Mai 2024)