Hartmut Rosa

deutscher Soziologe, Philosoph und Politikwissenschaftler

Hartmut Rosa (* 15. August 1965 in Lörrach) ist ein deutscher Soziologe und Politikwissenschaftler.

Hartmut Rosa (2015)

Rosa lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt und Mitherausgeber der Fachzeitschrift Time & Society sowie des Berliner Journals für Soziologie.

Leben

Hartmut Rosa kam in Lörrach zur Welt als Sohn von Maria, geb. Griesser, und Heinz Rosa, einem Finanz- und Lohnbuchhalter. Dieser hatte wegen einer Mehlallergie seinen Beruf als Bäckermeister aufgeben müssen und war in einer Seidenweberei zum Industriekaufmann umgeschult worden.[1] Hartmut Rosa wuchs in Grafenhausen im Hochschwarzwald auf, wo er Hochalemannisch sprach und in der kleinen evangelischen Gemeinde Orgel spielte und gelegentlich noch spielt.[2][3] Er legte 1985 am Hochrhein-Gymnasium Waldshut die Abiturprüfung ab. Nach dem Zivildienst begann er 1986 ein Magisterstudium der Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau, das er 1993 mit Auszeichnung abschloss.

Das Wintersemester 1988/89 verbrachte er mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes an der London School of Economics and Political Science. Mit seiner Dissertation Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor wurde er 1997 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Prädikat summa cum laude zum Dr. rer. soc. promoviert.

Er war als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft III der Universität Mannheim (1996–1997) und als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1997–1999) tätig. 2004 habilitierte er sich dort mit der Studie Soziale Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne für Soziologie und Politikwissenschaft. Im Sommersemester 2004 vertrat er einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft/Politische Theorie an der Universität Duisburg-Essen. Im Wintersemester 2004/2005 und im Sommersemester 2005 hatte er die Lehrstuhlvertretung für Politische Wissenschaft an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg inne.[4]

2005 wurde Hartmut Rosa zum Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an die Friedrich-Schiller-Universität Jena berufen.[5] Hier war er von 2011 bis 2022 gemeinsam mit Klaus Dörre und Stephan Lessenich Sprecher der DFG-geförderten Kollegforschergruppe „Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung (Postwachstumsgesellschaft)“, die sich mit Wachstumskritik befasste.

Im September 2013 begleitete er den Bundespräsidenten Joachim Gauck als Staatsgast auf dessen Frankreichreise. Seit Oktober 2013 ist Rosa Direktor des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt.[5] 2017 hielt er den Festvortrag zum Abschluss der Salzburger Hochschulwochen.[6] Seit 2021 ist Rosa gemeinsam mit Silke van Dyk und Tilman Reitz Sprecher des Sonderforschungsbereichs 294 „Strukturwandel des Eigentums“ mit dem Schwerpunkt an den Universitäten Jena und Erfurt und dort für die Forschung zweier Teilbereiche verantwortlich.

Rosa war mehrmals zu Studienzwecken in den USA, unter anderem arbeitete er 1995 als Forschungsassistent im Department of Government/Center for European Studies der Harvard University. Außerdem erhielt er ein Feodor-Lynen Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung 2001/02 für die Arbeit als Gastprofessor an der New School University in New York. Seit 2002 ist er dieser Universität als Gastprofessor verbunden.

Forschungsschwerpunkte

Rosa befasst sich mit den Themenfeldern Zeitdiagnose und Moderneanalyse, Normative und empirische Grundlagen der Gesellschaftskritik, Subjekt- und Identitätstheorien, Zeitsoziologie und Beschleunigungstheorie sowie aktuell mit der von ihm so genannten „Soziologie der Weltbeziehung“.[7] Seine Bücher werden auch international rezipiert und sind in 15 Sprachen übersetzt.[8]

  • Zeitsoziologische und modernetheoretische Untersuchungen bilden die Basis seiner Habilitationsschrift „Soziale Beschleunigung. Die Veränderung der Temporalstrukturen“. Die „technische beziehungsweise ökonomisch induzierte Beschleunigung“ zeige sich in der rasanten Entwicklung der Technik im 19./20. Jahrhundert und der sozialen Beschleunigung der Menschen. Die Geschichte der Moderne sei gleichzeitig die Geschichte von Beschleunigung. Aufgrund des Zeitgewinns durch technischen Fortschritt entstehe eine Zeitnot und kein Zeitgewinn. Laut Rosa führt die Vielzahl der Möglichkeiten dazu, dass ein Mensch die ihm gegebenen Möglichkeiten nicht mehr im Laufe seines Lebens ausschöpfen kann. Die „Steigerungsrate übersteigt die Beschleunigungsrate“, was dazu führe, dass das gerade Erlebte bereits nicht mehr up to date sei und die Individuen keine Chance hätten, „lebensgesättigt“ zu sterben, wie es auch schon Goethes Faust erging. Rosa kreiert das „Slippery-Slope-Phänomen“ als soziologisches Gegenstück zur biologischen Red-Queen-Hypothese: Demnach dürfe – oder vielmehr: könne – der Mensch sich nie ausruhen und sich nie zufriedengeben, da er sonst mit einem Verlust oder Nachteil rechnen müsse. Rosa sieht keine Steuerungsmöglichkeiten des Lebens für den Menschen mehr, da sich das Tempo der Beschleunigung verselbständigt habe. Zuletzt beschäftigte er sich insbesondere mit dem Topos der Desynchronisation, also dem zunehmenden Auseinandertreten der Zeitstrukturen verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche wie Politik und Wirtschaft.[9]
  • Kommunitarismus-Debatte“: Rosa macht sich insbesondere für die „Würde der Arbeit“ und deren gesellschaftliche Ausrichtung am Gemeinwohl stark, etwa beim Thema sozialökologische Wachstumskritik.[10] Er hat zudem mehrere Einführungstexte zur kommunitaristischen Politik- und Demokratietheorie verfasst.[11][12] Zu diesem Themenbereich gehört auch seine Dissertation über den kanadischen Philosophen Charles Taylor, mit dem er sich bis heute in zahlreichen weiteren Schriften befasst.[13]
  • Bildung von Mobilisierungsressourcen: Die Frage, woraus sich in der allgemeinen Entwicklung moderner Gesellschaften, vor allem die der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Mobilisierungsressourcen bürgerlichen Engagements bilden können, und welche politische Gesinnung wahrscheinlicher in einem ehrenamtlichen oder zivilgesellschaftlichen Engagement resultiert, stellt den dritten Forschungsschwerpunkt. Laut Rosa erzeugt die Identifizierung mit dem Staat, „mein Land“, eine moralische Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass dieser Staat richtig handelt. Um dies gewährleisten zu können, müsse man sich selbst dafür einsetzen.[14]
  • Die Metatheorie in der Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften aus einer ideengeschichtlichen Perspektive: Dabei betont er die Verdienste der sogenannten Cambridge School, deren Angehörige in seinen Augen das „Bewusstsein für methodische Fragen und theoretische Voraussetzungen im Umgang mit der Ideengeschichte geschärft und dabei eine fruchtbare methodologische Diskussion“ eröffnet hätten. Rosa fordert eine Hinterfragung politischer Theorien bezüglich ihres Inhalts und ihres Wirkens. Das bedeute die Untersuchung von Traditions- und Diskussionszusammenhängen sowie normativer oder ideologischer Implikationen, in denen er das zentrale Anliegen einer kritischen Begriffsgeschichte sieht. Dieser Forschungsschwerpunkt fügt seine vorangegangenen Themenbereiche zusammen. Rosa sucht neue Verbindungen zwischen der aktuellen Gesellschaftstheorie mit zeitdiagnostischen Analysen und einer normativen, kritischen Sozialphilosophie, deren Basis er in der Verknüpfung von „politik-, identitäts- und modernetheoretischen Überlegungen“ sieht.[15]
  • Mit der im Rahmen einer „Soziologie der Weltbeziehung“ entworfenen Resonanztheorie stellt Rosa ein Gegenkonzept zur Allgegenwärtigkeit von Entfremdung vor, indem er alltägliche Erfahrungen gelingender, „resonanter“ Weltbeziehung zur kritischen Grundlage erhebt. In Fortführung der Kritischen Theorie sieht Rosa sich hier in der Tradition Erich Fromms.[16]

Auszeichnungen

Schriften (Auswahl)

Monographien

Hörbücher

Herausgeber

  • mit Christoph Henning: The Good Life Beyond Growth: New Perspectives, Routledge 2017.
  • mit Christoph Henning und Arthur Bueno: Critical Theory and New Materialisms, Routledge 2021.
  • mit Vera King, Benigna Gerisch: Lost in Perfection. Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche. Berlin: Suhrkamp 2021

Beiträge in Sammelwerken

  • Integration, Konflikt und Entfremdung – Die Perspektive des Kommunitarismus. In: Hans-Joachim Giegel (Hrsg.): Konflikt in modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main 1998, S. 202–244.
  • Die prozedurale Gesellschaft und die Idee starker politischer Wertungen. Zur moralischen Landkarte der Gerechtigkeit. In: Herfried Münkler, Marcus Llanque (Hrsg.): Konzeptionen der Gerechtigkeit. Baden-Baden 1999, S. 395–423.
  • Politisches Handeln und die Entstehung des Neuen in der Politik. In: Harald Bluhm, Jürgen Gebhardt (Hrsg.): Konzepte politischen Handelns. Kreativität – Innovation – Praxen. Nomos, Baden-Baden 2001, S. 23–42.
  • Zwischen Selbstthematisierungszwang und Artikulationsnot? Situative Identität als Fluchtpunkt von Individualisierung und Beschleunigung. In: Jürgen Straub, Joachim Renn (Hrsg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Campus, Frankfurt am Main/ New York 2002, S. 267–302.
  • mit K.-U. Meyn (Hrsg.): Bürgerbewusstsein und Demokratie in Mittel- und Osteuropa. Zum Zustand der politischen Kultur in den postsozialistischen Staaten. (= Collegium Europaeum Jenense. Band 33). Glaux-Verlag, Jena 2005.
  • Accélération. In: Philippe Zawieja, Franck Guarnieri (Hrsg.): Dictionnaire des risques psychosociaux. Éditions du Seuil, Paris 2014, S. 14–15.
  • Résonance. In: Philippe Zawieja, Franck Guarnieri (Hrsg.): Dictionnaire des risques psychosociaux. Éditions du Seuil, Paris 2014, S. 647–649.
  • Der Irrtum der antagonistischen Sozialontologie. Zur kritischen Theorie demokratischer Resonanz. In: Ulf Bohmann, Paul Sörensen (Hrsg.): Kritische Theorie der Politik. Suhrkamp, Berlin, S. 209–242.
  • Das hängt jetzt von uns ab, was wir daraus machen. In: Jonas Zipf, Birgit Liebold (Hrsg.): Inne halten. Chronik einer Krise., Theater der Zeit, Berlin 2020, S. 14–37.
  • Resonanz statt Entfremdung. In: Anne-Sophie Moreau (Hrsg.): Kritische Theorie. Gibt es ein richtiges Leben im falschen?, Philosophie Magazin, Berlin 2021, S. 84–87.

Literatur

  • Christian Helge und Peter Schulz (Hrsg.): Resonanzen und Dissonanzen. Hartmut Rosas kritische Theorie in der Diskussion. Transkript, Bielefeld 2017.
  • Tobias Kläden und Michael Schüßler (Hrsg.): Zu schnell für Gott? Theologische Kontroversen zu Beschleunigung und Resonanz. Herder, Freiburg 2017.
  • Jean-Pierre Wils (Hrsg.): Resonanz. Im Gespräch mit Hartmut Rosa, Nomos, Baden-Baden 2018.

Dokumentation

  • Im Gespräch mit Hartmut Rosa. Regie: Adèle Flaux, Produktion UPIAN.COM, Deutschland, 61 Minuten, 2023

Weblinks

Commons: Hartmut Rosa – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Zum Werk

Einzelnachweise