Mehrsystemfahrzeug
Ein Zwei- bzw. Mehrsystemfahrzeug ist ein elektrisches Schienenfahrzeug, das seine Antriebsenergie über mindestens zwei verschiedene Bahnstromsysteme per Oberleitung und/oder Stromschiene beziehen kann. Damit unterscheidet es sich von einem Einsystemfahrzeug, das nur für ein einziges Bahnstromsystem ausgelegt ist. Der Wechsel zwischen Bahnstromsystemen erfolgt an Systemtrennstellen, entweder während der Fahrt auf freier Strecke oder stationär in Bahnhöfen.
Falls es sich bei dem zur Verfügung stehenden Bahnstrom um Wechselstrom handelt, muss er gegebenenfalls mittels Transformator und Umrichter für die Fahrmotoren umgeformt werden.Darunter fallen beispielsweise Lokomotiven für den europäischen, grenzüberschreitenden Verkehr, die unterschiedliche Bahnstromsysteme auf den einzelnen Streckenabschnitten unterstützen.Auch Stadtbahnwagen werden bei Bedarf als Mehrsystemfahrzeuge ausgeführt. Diese können dann sowohl mit der Straßenbahn-Stromversorgung (meist 600 oder 750 V Gleichspannung) als auch mit der Fernbahnstromversorgung (z. B. 15 kV Wechselspannung) betrieben werden. Beispiele für letzteres sind die Fahrzeuge vom Typ GT8-100C/2S der Karlsruher AVG (seit 1992), desgleichen die der Saarbahn in Saarbrücken.
Die Kombination von elektrischem und Dieselantrieb in einem Fahrzeug wird teilweise ebenfalls Mehrsystemfahrzeug genannt, richtigerweise werden Fahrzeuge mit einem solchen bimodalen Antrieb aber als Zweikraftlokomotiven oder Zweikrafttriebwagen bezeichnet. Ein Beispiel für ein solches Fahrzeug sind die Gem 4/4 der Rhätischen Bahn. Auch Hybridlokomotiven, die im Unterschied zu herkömmlichen Mehrsystem- und Zweikraftfahrzeugen einen zusätzlichen Energiespeicher an Bord haben, werden gelegentlich so bezeichnet.
Ausführungen
Je nach Ausführung gibt es Zwei-, Drei- und Viersystemlokomotiven und -triebwagen. Mehrsystemlokomotiven werden seit Anfang der 1960er Jahre eingesetzt. Der zeitraubende Lokomotivwechsel an den Grenzen kann somit entfallen. Diese Lokomotiven müssen jedoch den Bestimmungen und den technischen Anforderungen der verschiedenen Länder genügen, um damit die Interoperabilität zu unterstützen. So verfügen diese Lokomotiven zum Beispiel über mehrere Stromabnehmer mit unterschiedlichen Paletten und Sicherheitseinrichtungen wie beispielsweise Zugbeeinflussungssysteme.
Triebfahrzeuge für zwei Stromsysteme sind als Zweispannungs-, Zweifrequenz- und Zweisystemfahrzeuge möglich.
Zweispannungsfahrzeuge für Gleichspannungsbetrieb sind bei klassischer Widerstandssteuerung relativ einfach zu realisieren, wenn das Verhältnis der Spannungen 1:2 (im europäischen Raum vorrangig mit 1,5 und 3 kV) beträgt. Üblicherweise werden in diesem Fall die Fahrmotoren paarweise unter 1,5 kV parallel, unter 3 kV in Reihe geschaltet. Klassische Gleichstromlokomotiven für 3 kV sind mit verringerter Leistung auch unter 1,5 kV einsatzfähig. Dieses Verfahren wurde beispielsweise auf Grenzbahnhöfen zwischen Frankreich und Italien sowie Spanien angewendet, um die Fahrleitungskonstruktion zu vereinfachen.
Zweifrequenzfahrzeuge sind unter den beiden üblichen Wechselstromsystemen einsetzbar. Der Haupttransformator benötigt Abgriffe für beide Spannungen, eine Spannungsfestigkeit für den höheren Wert und den größeren Eisenquerschnitt für die geringere Frequenz. Dadurch steigt die Gesamtmasse.
Ein Zweisystemfahrzeug für ein Gleich- und ein Wechselstromsystem ist ein Gleichstromfahrzeug mit zusätzlich eingebautem Transformator mit fester Übersetzung.
Dreisystemfahrzeuge sind relativ selten, die meisten davon gibt es für die Kombination von 25 kV, 50 Hz sowie 1,5 und 3 kV Gleichspannung. Jede andere denkbare Kombination war zumindest bei klassischer Steuerung mit wenig Aufwand zum Viersystemfahrzeug zu erweitern. Geändert hat sich das mit der Einführung des Drehstromantriebes mit Gleichstrom-Zwischenkreis. Diese hat den Bau von Fahrzeugen für zwei Wechsel- und ein Gleichspannungssystem vereinfacht, das zweite Gleichspannungssystem erfordert wiederum einen höheren Aufwand (beispielsweise durch von Stern- auf Dreieckschaltung umschaltbare Fahrmotoren). Bei vielen Mehrsystemfahrzeugen differieren die Antriebsleistungen unter unterschiedlichen Fahrdrahtspannungen. Erst die Steuerung durch Leistungselektronik hat gleiche Leistungen unter unterschiedlichen Spannungen ermöglicht, wobei die hohen Ströme unter 1,5 kV und ihre Übertragung auf die Fahrzeuge noch immer begrenzend wirken.
Viersystemlokomotiven wurden bisher nur im europäischen Normalspurnetz realisiert. Hier sind sie für 25 kV Wechselspannung mit 50 Hz, 15 kV Wechselspannung mit 16,7 Hz und auf die beiden Gleichspannungen von 3 kV und 1,5 kV ausgelegt. Sie können elektrisch auf allen elektrifizierten Normalspurstrecken in ganz Europa mit Ausnahme von Südengland verkehren; Beispiele sind die Lokomotiven der Reihe 189 der Deutschen Bahn AG oder früher die Lokomotiven der Baureihe 184 der Deutschen Bundesbahn. Die Lokomotiven müssen jedoch über Einrichtungen der länderspezifischen Zugbeeinflussungssysteme sowie passende Stromabnehmer verfügen.
Fahrzeuge für mehr als vier Stromsysteme sind zwar technisch möglich, doch bestand zumindest bisher dafür kein Bedarf.
Problematisch war insbesondere bei Drei- und Viersystemfahrzeugen in klassischer Steuerung die Vielteiligkeit der Konstruktion, damit zusammenhängend eine erhöhte Störanfälligkeit und zusätzlich eine gegenüber Einsystemfahrzeugen mit gleicher Leistung deutlich höheren Masse. Deshalb konnten sie sich nicht allgemein durchsetzen, ihre Verbreitung blieb immer sehr begrenzt. Das änderte sich erst mit der Serienreife des Umrichterantriebes mit Drehstromasynchronmotoren. Bei diesen ist die Mehrsystemfähigkeit mit deutlich weniger Massezuwachs verbunden. Problematisch bleiben die unterschiedlichen Zugbeeinflussungseinrichtungen.
Geschichte
Erste Mehrsystemfahrzeuge gab es schon vor 1910, allerdings war damals ein ungleich höherer technischer Aufwand notwendig. Die Triebwagen der Reihe 200 der Wiener Lokalbahn sind ein Beispiel für frühe Zweisystemfahrzeuge: Die 1907 gebauten Fahrzeuge besaßen eine normale Widerstandssteuerung mit Fahrschalter für den Betrieb unter 600 V Gleich- und einen Transformator mit dazugehörigen Stufenschalter für den Betrieb unter 750 V Wechselspannung. Die Motoren Type BME 50 der ÖSSW vertrugen beide Stromsysteme. Die 1927/28 gelieferte Wagen der Nachfolgebauart 220/230 besaßen bereits eine elektropneumatische Schützensteuerung, die Wendepole der Motoren wurden mittels eines Nebenschlusses mit Drosselspule für beide Stromsysteme nutzbar gemacht. Der Zweisystembetrieb wurde bis 1945 aufrechterhalten. 1992 wurden in Karlsruhe die ersten Zweisystemstadtbahnwagen in Dienst gestellt, die nach der BO Strab und der EBO zugelassen wurden, auf Straßenbahn- und Eisenbahnoberbau einschließlich der Herzstückbereiche von Weichen und Kreuzungen laufsicher sind und außerdem unter den Fahrleitungsspanngen von 750 Volt Gleich- und 15 kV Wechselspannung bei 16,7 Hz eingesetzt werden können. Diese Verknüpfung nennt man auch Karlsruher Modell.
Zwei- und Mehrsystemlokomotiven
Die SNCF setzt zahlreiche Mehrsystemfahrzeuge ein. Da es in Frankreich zwei Bahnstromsysteme (1,5 kV Gleich- und 25 kV, 50 Hz Wechselspannung) gibt, sind sie auch im Binnenverkehr im Einsatz, z. B. SNCF BB 26000. Die TGV-Triebzüge und die aus ihnen abgeleiteten der Renfe-Baureihe 100 sowie die von Eurostar sind ebenfalls zwei- und teilweise mehrsystemfähig. Die SNCF stellte außerdem für den internationalen Verkehr z. B. 1964 zehn Viersystemlokomotiven der Baureihe CC 40100 in Dienst. Diese imposanten Lokomotiven wurden im TEE-Verkehr nach Belgien, Deutschland und in die Niederlande eingesetzt. Die Höchstgeschwindigkeit betrug 180 km/h, die Dauerleistung 3670 kW. Heute verkehren auf diesen Relationen Thalys-Einheiten.
Weitere Bahnverwaltungen setzen Mehrsystemlokomotiven ein z. B. die SNCB (Belgien), ČD und ÖBB (Österreich). Wegen der Lage des belgischen Netzes, das an jeder Grenze an ein anderes Stromsystem stößt, wurden für die SNCB schon relativ früh Viersystemmaschinen gebaut. Auch in Tschechien und in der Slowakei gibt es Mehrsystemlokomotiven im Binnenverkehr, da das Streckennetz teilweise mit 3 kV Gleichspannung und mit 25 kV, 50 Hz Wechselspannung elektrifiziert ist. Die ČD besitzt zusätzlich der deutschen Reihe 180 baugleiche Lokomotiven unter den Baureihenbezeichnungen 372 (120 km/h) beziehungsweise 371 (160 km/h) für 3 und 15 kV. Die Taurus-Lokomotiven der Reihe ÖBB 1216 sind für den Betrieb nach Italien und Slowenien neben den beiden üblichen Wechselspannungen zusätzlich für 3 kV Gleichspannung ausgerüstet.
Die Triebzüge der Renfe-Baureihe 130 sind eines der seltenen Beispiele von Zweisystemtriebzügen, die zusätzlich im Betrieb zwischen iberischer Breit- und Normalspur umspurbar sind.
Seit der Öffnung des europäischen Binnenmarktes verkehren auch Privatbahnlokomotiven auf europäischen Stecken.
Das Problem in Europa sind die länderspezifischen Zugbeeinflussungssysteme. Die Lokomotiven müssen mit den entsprechenden Fahrzeuggeräten ausgerüstet sein. Das bedeutet nicht nur einen hohen Kostenaufwand, es ist auch wegen des vorhandenen Einbauraumes und der Fahrzeugmasse problematisch. Zwischenzeitlich wurde zwar das funkbasierte Zugbeeinflussungssystem ETCS entwickelt, das aber noch nicht überall zur Verfügung steht, sodass der freizügig länderübergreifende Einsatz der Lokomotiven noch schwierig ist.
Deutsche Bahn
Im von der Deutschen Bundesbahn 1968 eingeführten EDV-Nummernplan wurde für Mehrsystemlokomotiven der Stammnummernbereich 180 bis 189 vorgesehen. Seit der Umstellung auf die UIC-EDV-Nummern wird auf diesen Nummernbereich keine Rücksicht mehr genommen; die zweifrequenzfähigen Eurodual-Lokomotiven von Stadler wurden als Reihe (2)159 eingeordnet, Siemens Vectron und Siemens Smartron als Baureihen (6)191 bis (6)193.Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über alle Mehrsystem-Lok-Baureihen die im deutschen Fahrzeugeinstellungsregister hinterlegt sind oder sich im Besitz der Deutschen Bahn AG oder einer ihrer ausländischen Tochterunternehmen befinden.
Baureihe | 159 | 180 | 181 | 182 alt | 182 neu | 183 alt | 183 neu | 184 | 185 | 186 | 187 | 188 | 189 | 191 | 192 | 193 |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Indienststellung | 2019 | 1988 | 1967 | 1959 | 2000 | 1962 | 2006 | 1966 | 2000 | 2006 | 2011 | 2017 | 2003 | 2015 | 2018 | 2010 |
Ausmusterung | – | – | 2018 | 1982 | – | 1969 | - | 2002 | – | – | – | – | – | – | – | – |
Anzahl Einheiten | 01 | 20 | 29 | 3 | 25 | 1 | 01 | 5 | 4052 | 01 | 2003 | 01 | 100 | 84 | 01 | 1005 |
Achsfolge | Co’Co’ | Bo’Bo’ | ||||||||||||||
Stromsysteme ~ | 15 kV, 16,7 Hz | |||||||||||||||
25 kV, 50 Hz | — | 25 kV, 50 Hz | ||||||||||||||
Stromsysteme = | — | 3 kV | — | — | — | — | 1,5 kV 3 kV | — | 1,5 kV 3 kV | 1,5 kV 3 kV | — | — | 1,5 kV 3 kV | 1,5 kV 3 kV | — | 1,5 kV 3 kV |
Dauerleistung | 6150 kW | 3080 kW | 3200 kW | 2500 kW | 6400 kW | 2150 kW | 6400 kW | 3000 kW | 5600 kW | 5600 kW | 5600 kW | 5600 kW | 6400 kW | 6400 kW | 5600 kW | 6400 kW |
Höchstgeschwindigkeit | 160 km/h | 120 km/h | 160 km/h | 120 km/h | 230 km/h | 100 km/h | 230 km/h | 140 km/h | 140 km/h | 160 km/h | 160 km/h | 160 km/h | 140 km/h | 200 km/h | 160 km/h | 200 km/h |