Rape Culture

Gesellschaften und soziale Milieus, in denen sexualisierte Gewalt verbreitet ist

Rape Culture (von englisch rape „Vergewaltigung“, und culture „Kultur“) bezeichnet soziale Milieus oder Gesellschaften, in denen Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt verbreitet sind und weitgehend toleriert oder geduldet werden.[1][2][3]

Umfassende Vergewaltigungsskala (2018)
  • Vergewaltigung ist kein gravierendes Problem
  • Vergewaltigung ist ein Problem
  • Vergewaltigung ist ein bedeutendes Problem
  • Vergewaltigung ist ein gravierendes Problem
  • Vergewaltigung ist ein weitverbreitetes Problem
  • Keine Daten
  • Quelle: Comprehensive Scale of Rape (LRW-SCALE-11) des WomanStats Project. Berücksichtigt sind neben der Zahl an angezeigten Fällen auch Dunkelziffer-Schätzungen (z. B. durch gesellschaftliche Tabus) sowie das jeweilige Sexualstrafrecht.

    So eine „Vergewaltigungskultur“ überträgt die Vorsorge und Verhinderung von und sogar die Verantwortung für Vergewaltigungen teils oder ganz den Opfern (in der Regel Frauen), etwa indem ihnen vorgeworfen wird, eine Vergewaltigung durch die Wahl ihrer Kleidung, durch ihr Verhalten oder anderweitig provoziert zu haben (victim blaming). Damit geht die Verharmlosung von Vergewaltigungen und die Herabsetzung Betroffener oder potenzieller Opfer zu Sexualobjekten einher.[4][5][6][7][8][9]

    Begriff

    Der Begriff Rape Culture wird in feministischen, politischen und sozialwissenschaftlichen Diskursen verwendet. In der deutschsprachigen Literatur finden sich sowohl der Anglizismus Rape Culture als auch seltener die direkte Übersetzung Vergewaltigungskultur.[10][11]Sexuelle Übergriffe und andere Formen sexualisierter Gewalt sind zwar in erster Linie Verbrechen einzelner Individuen, können aber durch eine Vielzahl gesellschaftlicher Faktoren begünstigt werden. Als Rape Culture werden solche Kulturkreise bezeichnet, in denen das der Fall ist. Eine allgemein anerkannte Definition, welche gesellschaftlichen Faktoren sexualisierte Gewalt begünstigen, existiert aber nicht.

    In der Praxis beinhaltet der Begriff Rape Culture, dass z. B. Vergewaltigung oder auch sexuelle Belästigung zwar gesetzlich unter Strafe stehen, aber immer wieder als eine Art Kavaliersdelikt verharmlost werden. Dabei wird den Opfern oft eine gewisse Mitschuld an der Tat unterstellt, während viel Verständnis für Befindlichkeiten und Rechtfertigungen der Täter an den Tag gelegt wird. Darüber hat die Aussage eines Mannes vor Gericht, z. B. in den meisten muslimischen Ländern, mehr Gewicht als die einer Frau. Wo eine Frau die Aussage, sie sei vergewaltigt worden, von männlichen Zeugen bestätigen lassen muss, reduzieren sich ihre Aussichten auf einen fairen Prozess von Anfang an. Viele Täter erhalten daher nur milde Strafen oder sogar Freisprüche.[12]

    Ursprung und Verwendung des Ausdrucks

    In den frühen 1970er Jahren begannen Feministinnen mit Versuchen, das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit für das Vorkommen von Vergewaltigungen zu steigern. Bis dahin wurden Vergewaltigungen selten diskutiert oder zugegeben:

    “Until the 1970s, most Americans assumed that rape, incest, and wife-beating rarely happened.”

    „Bis in die 1970er Jahre nahmen die meisten Amerikaner an, dass Vergewaltigung, Inzest und das Verprügeln von Ehefrauen kaum vorkämen.“[13]

    Teil der Bewusstmachungsbestrebungen war die Etablierung des Begriffs Rape Culture.

    Laut der Encyclopedia of Rape entstand der englische Begriff während der zweiten Welle des Feminismus in den USA, wurde in den 1970er Jahren in unterschiedlichen Medien vielfach verbreitet und wird von Feministen häufig verwendet, um die zeitgenössische amerikanische Kultur als Ganzes zu beschreiben.[14]

    Eines der ersten Bücher, das den Begriff Rape Culture verwendete, war Rape: The First Sourcebook for Women[15] von 1974. Es enthielt Berichte von Vergewaltigungen aus erster Hand und trug wesentlich zur Bewusstmachung in der Öffentlichkeit bei.[16] Das im Buch postulierte Ziel ist die „Eliminierung von Vergewaltigungen, und dieses Ziel kann nicht erreicht werden ohne eine revolutionäre Transformation unserer Gesellschaft.“[17]

    Während allerdings die Vorstellung einer Rape Culture im feministischen Diskurs generell akzeptiert ist, besteht Uneinigkeit darüber, was eine solche „Kultur“ im Einzelnen definiert und in welchem Ausmaß eine Gesellschaft den gewählten Kriterien entspricht. Rape Culture korreliert mit zahlreichen anderen sozialen Faktoren wie Rassismus, Homophobie, Altersdiskriminierung, Klassismus (die systematische Diskriminierung einer Gruppe durch eine andere, basierend auf ökonomischen Unterschieden), religiöser Intoleranz und weiteren Formen von Diskriminierung.[18][19]

    Kontroverse in den USA und Maßnahmen

    2013 protestierten Studentinnen mit der Parole „Blame the system, not the victim“ gegen sexuelle Gewalt auf dem Campus. Caroline Kitchens, Forschungsassistentin des konservativen Thinktanks American Enterprise Institute, hielt dem entgegen, dass Statistiken des US-amerikanischen Justizministeriums eine allgegenwärtige Rape Culture nicht belegen würden.[20] Im Nachrichtenmagazin Time vertrat sie die Meinung, es gebe keinen Beweis, dass Vergewaltigung als kulturelle Norm betrachtet werde. Das Amerika des 21. Jahrhunderts habe keine Rape Culture.[21] 2014 schrieb die feministische Autorin und Kolumnistin Jessica Valenti in der Washington Post, dass Amerika ein Vergewaltigungsproblem habe, das über das Verbrechen hinaus auf eine Kultur hinweise, die Vergewaltigung gedeihen lasse. Alle zwei Minuten werde jemand vergewaltigt. Sie kritisierte auch die größte amerikanische Organisation gegen sexuelle Gewalt, RAINN (Rape, Abuse & Incest National Network). Diese habe der Task Force des Weißen Hauses, die Studentinnen vor sexuellen Übergriffen schützen soll, geraten, Rape Culture nicht für sexuelle Gewalt verantwortlich zu machen. Laut RAINN werde Vergewaltigung nicht von kulturellen Faktoren verursacht, sondern von bewussten Entscheidungen eines kleinen Teils der Gemeinschaft, der Verbrechen begeht.[22] Eine Studie, die im Februar 2015 im Journal of Adolescent Health veröffentlicht wurde, kam zu dem Ergebnis, dass sexuelle Übergriffe auf und Vergewaltigungen von College-Studentinnen epidemische Ausmaße erreicht hätten und Interventionen gegen sexuelle Gewalt auf dem Campus dringend nötig seien.[23] Die Obama-Regierung initiierte mit der Kampagne It’s on Us neben einem obligatorischen Trainingsprogramm an Universitäten auch eine Änderung in der Beweisführung: Nach einer Verfügung des Bildungsministeriums der Vereinigten Staaten genügt für einen Schuldspruch in einem Campus-Verfahren bereits eine 50,1-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ein sexueller Übergriff stattgefunden hat. Dieser Vorstoß wird von etlichen Juristen als problematisch eingestuft, weil er die Unschuldsvermutung praktisch abschaffe.[24]

    In einer Studie der Association of American Universities unter 80.000 Studenten im September 2015 berichteten 26 Prozent der Frauen von erzwungenen sexuellen Kontakten und sieben Prozent von erfolgter Penetration. Bei den Männern berichteten sieben Prozent von erzwungenen sexuellen Kontakten.[25] Nach Angaben des US-Justizministeriums werden nur 15 bis 35 Prozent dieser Gewalttaten bei der Polizei gemeldet.[26]

    Andere Länder

    Der Vorwurf, über eine Rape Culture zu verfügen, wird außer gegen die USA[27] auch gegen weitere Länder erhoben. Dazu gehören vor allem Pakistan[28] und Indien,[29][30][31] aber auch Südafrika,[32] Großbritannien,[33] Australien,[34] Kanada[35] und Deutschland.[36]

    Gesichts- oder Ganzkörperschleier (Burka), die Frauen in arabischen Ländern tragen müssen, werden häufig mit der Vermeidung von Vergewaltigungen motiviert. Laut einer Studie des Ägyptischen Zentrums für Frauenrechte (ECWR) aus dem Jahr 2008 bietet das Tragen eines Schleiers allerdings keinen Schutz gegen solche Übergriffe. Die Studie ergab, dass 83 Prozent der ägyptischen Frauen sexuell belästigt werden.[37]

    Siehe auch

    Weblinks

    Literatur

    • Jan Jordan: Tackling Rape Culture: Ending Patriarchy. Routledge, London / New York 2023, ISBN 978-1-032-26359-5.
    • Tracey Nicholls: Dismantling Rape Culture. The Peacebuilding Power of ‘Me Too’. Routledge, London / New York 2021, ISBN 978-0-367-54630-4.
    • Alexandra Fanghanel: Disrupting Rape Culture. Public space, sexuality and revolt. Bristol University Press, Bristol 2020, ISBN 978-1-5292-0252-6.
    • Nickie D. Phillips: Beyond Blurred Lines. Rape Culture in Popular Media. Rowman & Littlefield, Lanham / Boulder / New York / London 2017, ISBN 978-1-4422-4627-0.
    • Kate Harding: Asking for it. The Alarming Rise of Rape Culture – and What We Can Do about It. Hachette Books, New York 2015, ISBN 978-0-7382-1702-4.
    • Emilie Buchwald, Pamela R. Fletcher, Martha Roth (Hrsg.): Transforming a Rape Culture. Milkweed Editions, Minneapolis 1993, ISBN 978-1-57131-204-4.

    Einzelnachweise