Uwe Nettelbeck

deutscher Schriftsteller, Journalist und Musikproduzent

Uwe Nettelbeck, eigentlich: Hans-Uwe Bessert-Nettelbeck;[1] (* 7. August 1940 in Mannheim; † 17. Januar 2007 in Bordeaux) war ein deutscher Schriftsteller, Journalist und Musikproduzent.

Leben

Schon während seines Studiums (ohne Abschluss) der germanistischen Literaturwissenschaft und der Soziologie begann Uwe Nettelbeck ab 1962 als Journalist für Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen zu arbeiten.[2] Seine Artikel über Film und Gerichtsverfahren machten ihn bald zu einem der bekanntesten Autoren der ZEIT.[3]

Für einen Eklat sorgte Nettelbeck 1968, als er für den umstrittenen Film Besonders wertvoll des Regisseurs Hellmuth Costard Partei ergriff, welchen die Festivalleitung der Kurzfilmtage Oberhausen aus dem Programm werfen wollte. Der Film, der einen Penis die Rede eines Politikers über das Gesetz zur Filmförderung vortragen lässt, war von Nettelbecks Frau Petra produziert worden. Uwe Nettelbeck nannte ihn „das vorläufige chef d’œuvre des deutschen Untergrundkinos. Er wird etwas ausrichten, obwohl kein Verleih ihn kaufen, kein zugängliches Kino ihn zeigen wird, denn das wäre schon etwas: ein Film, der sich nicht in unseren Kulturbetrieb integrieren läßt, der die andere Seite zwingt, Farbe zu bekennen, nicht liberal zu reagieren, wie sie möchte, sondern autoritär, wie sie muß, wenn es ernst wird.“[4]

In seiner Arbeit fühlte sich Nettelbeck von der Chefredaktion der Zeit, insbesondere von Theo Sommer, zunehmend reglementiert und zensiert.[5] Deshalb zog er sich 1969 aus der Wochenzeitung zurück, für die er bis dahin als Redakteur gearbeitet hatte.[6]Von März 1969 an war er stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift konkret. Deren Herausgeber, Klaus Rainer Röhl, entließ ihn aber schon im August wegen „politischer Differenzen“.[7] Zwischen 1970 und 1975 produzierte Nettelbeck die Band Faust. Von 1976 bis zu seinem Tod gab er mit Petra Nettelbeck die Zeitschrift Die Republik heraus. Das Paar zog 1992, „bestürzt über den Triumphalismus und Rassismus im wiedervereinigten Deutschland“,[8] in den Ort Maransin bei Bordeaux.

Uwe Nettelbeck war seit 1964 mit der Programmsprecherin und Schauspielerin Petra Nettelbeck (geb. Krause) verheiratet. Aus der Ehe gingen zwei Töchter hervor, Anouchka und Sandra. Sandra Nettelbeck ist Filmregisseurin und Drehbuchautorin.

Journalismus

Nettelbeck schrieb ab 1962 für die Zeit, ab 1963 für die Zeitschriften film und Filmkritik, später auch für den Südwestfunk, den Westdeutschen Rundfunk und andere, zunächst vor allem über Kino, gelegentlich auch über Literatur, insbesondere Trivialliteratur, und Popmusik. Ab 1967[2] veröffentlichte er Prozessberichte in der Zeit, unter anderem über die Strafverfahren gegen den „Kirmesmörder“ Jürgen Bartsch[9] und zu den Kaufhaus-Brandstiftungen am 2. April 1968.[10]

Kennzeichnend für Nettelbecks Journalismus ist, dass er das vom Kulturbetrieb Verachtete ernst nimmt, den Genrefilm, vor allem den Western, aber auch den Kriminalroman, die Popmusik oder das Fernsehen.[11] In seinen Artikeln dokumentiert er seine Quellen ausführlich, was seine spätere Vorliebe für die Montage ankündigt.[12]

Seine Kompromisslosigkeit brachte Nettelbeck nicht nur in Konflikte mit konservativen Redakteuren und Lesern, sondern auch mit der Linken. Gegen Ulrike Meinhofs Vorhaltung, er verwandele konkret in ein „Instrument der Konterrevolution“, bestand er darauf, politische Publizistik dürfe nicht bloß Bekenntnis, sie müsse auch Vermittlung sein.[13]

Faust

Im Jahr 1969 wurde Nettelbeck von Horst Schmolzi, verantwortlich für A & R bei der Londoner Niederlassung der Plattenfirma Polydor, gefragt, ob er eine deutsche Rockband zusammenstellen könne. Nettelbeck, der gerade mit dem Journalismus gebrochen hatte, sagte zu, erbat sich aber erhebliche Vorschüsse. Er vereinigte zwei kleinere Bands, Nukleus und Campylognatus Citelli, zu der Gruppe Faust. In einem ehemaligen Schulhaus in Wümme begann er, mit den Musikern zu proben und Aufnahmen zu machen. Die entstehenden avantgardistischen Schallplatten, die in Deutschland keinen nennenswerten Erfolg hatten, werden bis heute von US-amerikanischen und britischen Fans und Kritikern als Meisterwerke des Krautrock hoch geschätzt.[14] Als Polydor auf eine Kommerzialisierung der Musik drängte, schlossen Produzent und Gruppe einen Vertrag mit Virgin Records. Nettelbeck: „I had no idea what commercial was.“ (Ich wusste gar nicht, was kommerziell sein soll.)[15] Obwohl Virgin Records The Faust Tapes zum Preis einer Single auf den Markt brachte, wodurch die LP sich gut verkaufte, blieb der Gruppe ein dauerhafter Erfolg beim Publikum versagt. Nettelbeck zog sich 1975 vom Musikgeschäft zurück.

In der Zeit mit Faust produzierte Nettelbeck auch Platten von Anthony Moore und Tony Conrad.

Literarisches und editorisches Werk

Uwe Nettelbecks literarisches Werk entwickelte sich aus einer scharfen Auseinandersetzung mit dem Kulturbetrieb. Gesammelt sind die ersten Ergebnisse dieser Auseinandersetzung in dem 1976 im Selbstverlag erschienenen Band Mainz wie es singt und lacht […]. Glossen stehen neben Dokumenten, z. B. Briefen von Verlegern, Lektoren und Redakteuren an den Autor; der ebenfalls in dem Band enthaltene Text „Der Dolomitenkrieg“[16] ist eine literarische Montage über den Gebirgskrieg 1915–1918. In dem Buch sind bereits nahezu alle Stilmittel und Verfahren enthalten, die Nettelbeck in seiner Zeitschrift Die Republik entfalten wird.[17]

Die Republik

Die Republik Nr. 94–97

Die 1976 von Uwe Nettelbeck begründete Zeitschrift Die Republik wurde bis Nr. 54 von ihm allein, danach gemeinsam mit Petra Nettelbeck herausgegeben, bei Nr. 86 bis 91 zeichnete D. E. Sattler als Co-Editor. Umschlag und Typographie ähneln der Fackel von Karl Kraus. Die Republik erschien unregelmäßig. Sie ist zum größten Teil von Uwe Nettelbeck selbst geschrieben und von ihm redigiert, auch die Übersetzungen stammen in der Regel von ihm. Nach seinem Tod erschien mit Nr. 123–125 (17. Januar 2008) die letzte Ausgabe; sie enthält einen langen Aufsatz Nettelbecks zum Thema Kino. Bezeichnend für die unversöhnliche Haltung, die die Zeitschrift gegenüber dem Kulturbetrieb einnahm, ist der Passus, der sich in frühen Ausgaben der Republik findet: „Vom Bezug im Abonnement ausgeschlossen sind Firmen und Institutionen. Anzeigenaufträge werden nicht entgegengenommen; unverlangt eingesandte Manuskripte und Drucksachen nicht geprüft, sondern vernichtet, Briefe und Anfragen an die Redaktion nicht beantwortet.“[18]

Neben dem Kulturbetrieb beschäftigte sich Nettelbeck in Die Republik mit Kriminalistik und Polizeimethoden[19], mit Charlotte Corday, der Kolonisierung Perus,[20] dem Fernsehen, dem Kriminalroman und Fragen der Übersetzung, mit den Schriftstellern Gustave Flaubert, Johann Wolfgang von Goethe, Johann Georg Hamann, Friedrich Hölderlin, Herman Melville, August Strindberg und Johann Heinrich Voß, dem Bergsteiger Maurice Wilson, dem Regisseur Sam Peckinpah und dem Musiker Jerry Lee Lewis. In der Zeitschrift wurden Texte von Franz Jung, Maurice Maeterlinck und Jules Michelet veröffentlicht. Zu den Mitarbeitern zählten die Filmessayistin Frieda Grafe, die Filmemacher und Künstler Heinz Emigholz und Harun Farocki, die Fotografin Silke Grossmann, der Filmemacher und Soziologe Robert Krieg[21], der Hörspielregisseur und Autor Peter Michel Ladiges, der Journalist Stefan Ripplinger, D. E. Sattler, der Verleger Jörg Schröder, der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit und der Schriftsteller und Übersetzer Hans Wollschläger.[2]

Herausgeberschaften

Aus der Arbeit an der Republik gingen verschiedene Editionen hervor, so von Franz Jung[22] und Jules Michelet[23]. In den 1980ern erschienen im Verlag Franz Greno die ersten 13 einer damals auf 30 Bände veranschlagten Ausgabe der Schriften von Karl Philipp Moritz (1756–1793), herausgegeben von Petra und Uwe Nettelbeck. Nach dem Konkurs des Verlags musste die Edition vorübergehend zurückgestellt werden, bis ein Mäzen gefunden war. Sie wurde erst 2006 endgültig aufgegeben.[24]

Karl Philipp Moritz

Begleitend zur Arbeit an der Werkausgabe von Karl Philipp Moritz entstand eine mehrere tausend Seiten umfassende literarische Montage, die Fragment und bislang unveröffentlicht geblieben ist, Karl Philipp Moritz. Sie darf als ein Hauptwerk des Schriftstellers Nettelbeck gelten.[25]

Wirkung

Obwohl Uwe Nettelbeck, mit sehr wenigen Ausnahmen,[26] seit den sechziger Jahren keine Filmkritiken mehr veröffentlichte und das Thema Kino in den von ihm verfassten Texten der Republik nur eine geringe Rolle spielte, wird er auch heute noch vielfach als Filmkritiker wahrgenommen. Peter von Becker bemerkte im Tagesspiegel: „Dieser abgebrochene Literaturstudent Nettelbeck schrieb in den, verglichen mit heute, wahrhaft wilderen 60er Jahren auf oft ganzen ‚Zeit‘-Seiten oder auch in der Zeitschrift ‚Filmkritik‘ über Godard und Hitchcock, Truffaut und Kubrick, Pasolini und Bergman, über den neuen deutschen Kurzfilm oder den US-Underground Aufsätze von solcher Anschaulichkeit, Wahrnehmungsschärfe und Reflexionsdichte, wie sie auf späteren Kulturseiten nie mehr zu lesen waren.“[27]

Beachtet wurde Die Republik vor allem von ihren Gegnern, die Nettelbeck als einen Epigonen von Karl Kraus hinstellten.[28] Der Schriftsteller Eckhard Henscheid zählte Nettelbeck zu denen, die Prestige daraus beziehen wollten, „sich a) als Karl-Kraus-Verweser zu gerieren, b) praktisch nur das Schrifttum des 18. Jahrhunderts der Ästimation würdig zu erachten und c) und in der Folge alle gegenwärtige literarisch-philosophische Produktion angeekelt als dritt- bis fünftklassig zu ignorieren.“[29]

Als Schriftsteller wird er hier und da für einen frühen Vertreter der Popliteratur gehalten. So von dem Literaturwissenschaftler Dirck Linck.[30] Ähnlich äußern sich die Nachrufe von taz[31] und Welt[32]. Sie alle berufen sich allerdings dabei auf einen einzigen Text von Nettelbeck, „Generalthema ‚Trivialmythen‘ (um es einmal so zu nennen)“ (1970).[33]

Autobiographische Notiz (1965)

In: Filmkritik 4/1965, S. 237–238.

„Uwe Nettelbeck. Geboren am 7. August 1940 in Mannheim, aber bald in die Nähe von Lindau, also nach Bayern verpflanzt worden. Von Sexta bis Quarta versuchte ich das Staatliche Gymnasium in Lindau, ab Untertertia das Landerziehungsheim Schule Birklehof in Hinterzarten, wo ich mich bona fide konfirmieren ließ. Zum drittenmal wollte man mich die Obersekunda nicht machen lassen, so wurde ich wegen schlechter Zeugnisse (sieben Fünfer und eine Sechs) und renitenten Verhaltens der Schule verwiesen. Man steckte mich wieder zwischen die lindauer Gymnasiasten, in die Untersekunda ungerechterweise. Nach ein paar Wochen und mehreren Direktoratsverweisen aber wurde ich wegen schlechter Leistungen und renitenten Verhaltens auch von dieser Schule verwiesen. Drei Monate Verlagslehre, danach vier Monate Unabhängigkeit in England und dann Eintritt in das neusprachliche Erziehungsheim Schule Schloss Louisenlund bei Schleswig, wo ich mich mit knapper Not bis zum Abitur (1961) über Wasser halten konnte. Zum Wehrdienst für untauglich befunden (Störungserscheinungen, Sehschwäche und Untergewicht), Aufnahme eines Studiums (Literaturwissenschaft, Soziologie) in Göttingen und Hamburg, das ich nach sechs Semestern und einer Seminararbeit abgebrochen habe. Noch während des Studiums Beginn der ständigen Mitarbeit in der Feuilleton-Redaktion der Zeit, Veröffentlichungen (Feuilleton, Literatur- und Filmkritik) seit Herbst 1962. Seit Heft 3/1963 ständige Mitarbeit bei Enno Patalas. Ein Festivalbericht für Film und eine Rezension für die Frankfurter Hefte, Arbeit für Rundfunk und Fernsehen. Verheiratet, eine Tochter. Anschrift: Hamburg 39, Gellertstraße 28.“

Diskographie

Von Uwe Nettelbeck produzierte Schallplatten:

Schriften

  • „Generalthema ‚Trivialmythen‘ (um es einmal so zu nennen)“. In: Renate Matthaei (Hrsg.): Trivialmythen. März, Frankfurt/M. 1970, S. 151–179; erneut in März Texte 1. Trivialmythen. März bei Area: Erftstadt 2004, S. 471–499
  • Mainz wie es singt und lacht. Die Ballonfahrer. Briefe. Mainz bleibt Mainz. Gespenstergeschichten. Der Dolomitenkrieg. Nachträge. Verlag Petra Nettelbeck: Salzhausen-Luhmühlen 1976
    • Der Dolomitenkrieg. Zweitausendeins: Frankfurt a. M. 1979 (Separatdruck aus Mainz wie es singt und lacht)
      • Der Dolomitenkrieg. Mit einem Nachwort von Detlev Claussen. Berenberg: Berlin 2014
  • Die Republik, Nr. 1–125 / 1976–2008; ca. 8.000 Seiten
  • Fantômas. Eine Sittengeschichte des Erkennungsdienstes. Verlag Petra Nettelbeck: Salzhausen-Luhmühlen 1979
  • Cosmic (mit Jörg Schröder). März: Berlin/Schlechtenwegen 1982 (zugleich in Die Republik, Nr. 55–60 / 3. Juni 1982)
  • Charlotte Corday. Ein Buch der Republik (mit Petra Nettelbeck). Verlag Franz Greno: Nördlingen 1986 (Erweiterte Fassung von Die Republik, Nr. 16–17 / 17. Juli 1977)
  • Karl Philipp Moritz, Lesebuch. Verlag Franz Greno: Nördlingen 1986
  • Keine Ahnung von Kunst und wenig vom Geschäft. Filmkritik 1963-1968. Hg. v. Sandra Nettelbeck. Philo Fine Arts: Hamburg 2011
  • Prozesse. Gerichtsberichte 1967–1969, herausgegeben von Petra Nettelbeck, mit einem Nachwort von Henrik Ghanaat. Suhrkamp, Berlin 2015. ISBN 978-3-518-42482-7.[34]

Hinweise und Einzelnachweise

Weblinks