Interdisziplinarität

Fächerübergreifende Zusammenarbeit mehrerer Einzelwissenschaften mit Bezug auf gemeinsame Fragestellungen

Interdisziplinarität (lateinisch inter ‚zwischen‘, disciplina ‚Unterweisung‘, ‚Lehre‘, ‚Ordnung‘, ‚Disziplin‘) bezeichnet die kooperative Nutzung und Weiterentwicklung von Ansätzen, Denkweisen oder Methoden[1] verschiedener wissenschaftlicher Fachrichtungen.

Definition

Eine interdisziplinäre oder fächerübergreifende Arbeitsweise umfasst mehrere voneinander unabhängige Einzelwissenschaften, die einer meist wissenschaftlichen Fragestellung mit ihren jeweiligen Methoden nachgehen. Hierbei spielt eine untergeordnete Rolle, ob diese Fachgebiete selbst interdisziplinäre Ansätze verfolgen oder ob sich diese Ansätze erst durch eine Kombination der Fachgebiete ergeben. In Abgrenzung zur Multidisziplinarität legt Interdisziplinarität nahe, dass Methoden und Arbeitsprozesse kooperativ in der Zusammenarbeit zwischen Vertretern verschiedener Disziplinen entstehen und sich Lösungsstrategien nicht nur durch einen Austausch der Ergebnisse ergeben. Interdisziplinarität bedingt das Zusammenführen verschiedener Teilaspekte, ein reines Nebeneinander dieser Aspekte reicht hierfür nicht aus. Entscheidend ist auch, dass unter den kooperierenden Partnern ein wechselseitiger Nutzen aus der Kooperation entsteht.[2]

Über diese allgemeine Definition hinaus herrscht in der terminologischen Bedeutung des Begriffs allerdings kein Konsens: Abhängig vom Sprachgebrauch und vom Ausgangsverständnis wird Interdisziplinarität als Methode der Erkenntnisgewinnung verstanden, als normative Zielsetzung wissenschaftlicher Kooperation oder auch als Dialog über Chancen und Grenzen fachübergreifender Zusammenarbeit. Übergreifend kann Interdisziplinarität als „akademische Grundhaltung“ verstanden werden, „in der sich Offenheit, Kontextbewusstsein, Anerkennung der eigenen disziplinären Grenzen, Dialoginteresse sowie Kooperations- und Integrationsfähigkeit verbinden.“[3] Interdisziplinarität zielt also nicht auf die Abschaffung von Disziplinen, sondern auf die Wahrnehmung und Problematisierung ihrer Grenzen und Dysfunktionen.[4]

Begründungen und Formen von Interdisziplinarität

Wissenschaftliche Forschung ist durch arbeitsteilige Prozesse gekennzeichnet. Spezialisierung in einzelnen Fächern ist die Konsequenz.[5]Allerdings ist die Wirklichkeit, die die wissenschaftliche Forschung reflektiert, vielschichtig und komplex. Eine Unterteilung in Einzelwissenschaften, die oft willkürlich ist, findet in der Realität nur selten statt; die Probleme sind nicht immer entsprechend den disziplinären Grenzen zugeschnitten, sondern umfassen oft mehrere Fächer. Forschungsfragen können also häufig nicht aus einem einzelnen Fach heraus beantwortet werden, sodass eine Zusammenarbeit zwischen (inter) den Disziplinen notwendig ist. Ähnlich wie Transdisziplinarität erwächst auch Interdisziplinarität aus der Kritik an Kontextlosigkeit, hochspezialisiertem wissenschaftlichem Expertentum und an unzureichender Begründung disziplinärer Arbeit; sie stellt zudem besondere Anforderungen an die Gestaltung und Reform akademischer Lehre und Didaktik.[6][7]

Der Didaktiker Siegbert A. Warwitz führt dies am Beispiel der Sportwissenschaft aus: „Sporterziehung kann sich nicht mehr im bloßen Tun, selbst nicht im nur begründeten Tun und der reflektierenden Begleitung des Vollzugs, erschöpfen. Sporterziehung impliziert darüber hinaus eine kognitive Komponente, das Fach und die fachliche Arbeit grundsätzlich, d. h. nach den Wurzeln, Ausprägungen, Möglichkeiten, Werten, Mißwüchsen, Missbräuchen hin zu durchdenken.“[8] Der Sportwissenschaftler Klaus Willimczik hat die daraus erwachsenden Konsequenzen für die Zusammenarbeit mit so unterschiedlichen Disziplinen wie der Medizin, der Biomechanik, der Psychologie, der Soziologie oder der Pädagogik ausführlich dargestellt.[9]

Einige wissenschaftliche Fachrichtungen wie Politologie, Biochemie oder Geotechnik, Sportwissenschaft und Verkehrswissenschaft sind aus interdisziplinärer Zusammenarbeit entstanden (vgl. Interdisziplinäre Wissenschaft). Daneben sind auch weniger stark strukturierte Formen der fächerübergreifenden oder interdisziplinären Forschung heute üblich geworden wie etwa die Gorillaforschung[10] oder die Wagnisforschung.[11][12] Oft praktiziert auch der einzelne Wissenschaftler eine persönliche Interdisziplinarität, indem er Kompetenzen unterschiedlicher Disziplinen in sich vereint, etwa in der Schuldidaktik in Form des Projektunterrichts.

Wesentlich für die fächerübergreifende Zusammenarbeit ist, dass über die Fachgrenzen hinweg ein Verständigungsprozess stattfindet, d. h. eine gemeinsame Sprache zur Beschreibung und Lösung der Probleme gefunden wird, aber auch Kriterien, beispielsweise zur Bewertung der Qualität der wissenschaftlichen Leistung, geteilt werden. Prinzipien, nach denen Wissenschaftler fächerübergreifend arbeiten und zusammenarbeiten können, sind im Verhältnis der Disziplinen (a) das Prinzip der Gleichordnung der Disziplinen, (b) das Prinzip der Transzendierung der Disziplinen, (c) das Prinzip der Identifikation des Forschungsgegenstandes, (d) das Prinzip der Minimalität beim Wissenstransfer, (e) das Prinzip der Synergie und (f) das Prinzip der Integration; Prinzipien die Sprache betreffend sind (a) das Prinzip der Einheit, (b) das Prinzip der Alltagssprache und (c) das Prinzip des Vergleichs.[13]

Ab wann von interdisziplinärer Arbeit gesprochen wird, kann sich in verschiedenen Fachrichtungen stark unterscheiden. So würde ein Ingenieur für Nachrichtentechnik die Zusammenarbeit mit einem Ingenieur für Hochspannungstechnik nicht als interdisziplinär bezeichnen. Dagegen sprechen Mediziner bereits von Interdisziplinarität bei Zusammenarbeit von Urologie und Gynäkologie, obwohl diese Fachrichtungen nahe verwandt sind.

Beispiele

Siehe auch

Literatur

  • Andrew Delano Abbott: Chaos of disciplines. University of Chicago Press, Chicago 2007.
  • Christine von Blanckenburg, Birgit Böhm, Hans-Liudger Dienel, Heiner Legewie: Leitfaden für interdisziplinäre Forschergruppen: Projekte initiieren – Zusammenarbeit gestalten. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-515-08789-3.
  • Rico Defila, Antonietta Di Giulio, Michael Scheuermann: „Forschungsverbundmanagement – Handbuch für die Gestaltung inter- und transdisziplinärer Projekte“, vdf Hochschulverlag an der ETH Zürich, 2006.
  • Robert Frodeman, Julie Thompson Klein, Carl Mitcham (Hrsg.): The Oxford Handbook of Interdisciplinarity. Oxford University Press, Oxford 2010. ISBN 9780198733522.
  • Alexander Grau: Mehr Disziplin für alle Disziplinen! In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23. Februar 2003, S. 63.
  • Michael Jungert, Elsa Romfeld, Thomas Sukopp, Uwe Voigt (Hrsg.): Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010.
  • Julie Thompson Klein: Interdisciplinarity. History, theory, and practice. 3. Auflage. Wayne State University Press, Detroit 1993.
  • Julie Thompson Klein: Crossing Boundaries: Knowledge, Disciplinarities, and Interdisciplinarities. University Press of Virginia, Charlottesville 1996.
  • Julie Thompson Klein, Thorsten Philipp: Interdisciplinarity. In: Thorsten Philipp, Tobias Schmohl (Hrsg.): Handbook Transdisciplinary Learning. transcript, Bielefeld 2023, ISBN 978-3-8376-6347-1, S. 195–204, https://www.transcript-open.de/doi/10.14361/9783839463475-021
  • Andreas Mauz: Im Zwischen-Raum. Zur interdisziplinaritätstheoretischen Rekonstruktion von Interpretationspraktiken zwischen Literaturwissenschaft und Theologie. In: Andreas Mauz, Ulrich Weber (Hrsg.): „Wunderliche Theologie“. Konstellationen von Literatur und Religion im 20. Jahrhundert. Wallstein, Göttingen 2015 (Sommerakademie Centre Dürrenmatt Neuchâtel, Bd. 5), S. 53–89.
  • Harald A. Mieg: Interdisziplinarität braucht Organisation! In: Umweltpsychologie 2003, 7(2), S. 32–52.
  • Heinrich Parthey: Persönliche Interdisziplinarität in der Wissenschaft. In: Walther Umstätter und Karl-Friedrich Wessel: Interdisziplinarität – Herausforderung an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Kleine Verlag, Bielefeld 1999, S. 243–254.
  • Thorsten Philipp: Interdisziplinarität. In: Thorsten Philipp, Tobias Schmohl (Hrsg.), Handbuch Transdisziplinäre Didaktik. Bielefeld: transcript, 2021, ISBN 978-3-8376-5565-0, S. 163–173.
  • Thorsten Philipp. Stichwort: Interdisziplinarität. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 45 (4), 2023, S. 94.
  • Siegbert A. Warwitz: Interdisziplinäre Sporterziehung. Verlag Hofmann, Schorndorf 1974, DNB 740560026.
  • Peter Weingart: Interdisziplinarität – der paradoxe Diskurs. In: Ethik und Sozialwissenschaften 8 (1997), 521–529.
  • Harald Welzer: „Nicht über Sinn Reden!“ In: Die Zeit vom 27. April 2006, aufgerufen am 10. Dezember 2014.
  • Klaus Willimczik: Sportwissenschaft interdisziplinär – Geschichte, Struktur und Gegenstand der Sportwissenschaft. Feldhaus Verlag, Hamburg 2001, ISBN 3-88020-388-1.
  • Klaus Willimczik: Sportwissenschaft interdisziplinär. Band 4: Die sportwissenschaftlichen Teildisziplinen in ihrer Stellung zur Sportwissenschaft. Czwalina, Hamburg 2011, ISBN 978-3-88020-391-4.
  • Eine Sondernummer der französischen Zeitschrift Labyrinthe. Atelier interdisciplinaire, 27 (2007): La Fin des Disciplines ? online.

Weblinks

Wiktionary: Interdisziplinarität – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: fachübergreifend – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: fächerübergreifend – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise