Internationaler Gerichtshof

Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen

Der Internationale Gerichtshof (IGH; französisch Cour internationale de Justice, CIJ; englisch International Court of Justice, ICJ) ist das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen und hat seinen Sitz im Friedenspalast im niederländischen Den Haag. Seine Funktionsweise und Zuständigkeit sind in der Charta der Vereinten Nationen geregelt, deren Bestandteil das Statut des Internationalen Gerichtshofs ist.[3]

Internationaler Gerichtshof

Siegel des Internationalen Gerichtshofs

Flagge der Vereinten Nationen

Dienstgebäude des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag (2015)
Englische BezeichnungInternational Court of Justice (ICJ)
Französische BezeichnungCour internationale de Justice (CIJ)
Sitz der OrganeDen Haag, Niederlande Niederlande
VorsitzVereinigte Staaten Joan E. Donoghue
(Richterin und Präsidentin des Internationalen Gerichtshofs)[1]
Gründung1945[2]
Oberorganisation Vereinte Nationen
Webpräsenz des Internationalen Gerichtshofs

Zuständigkeit und Verfahren

Karte der Staaten, die eine Unterwerfungserklärung an den IGH abgegeben haben

Parteien vor dem Internationalen Gerichtshof können nur Staaten sein, jedoch keine internationalen Organisationen und andere Völkerrechtssubjekte. Zugang zum Gericht haben nur Vertragsstaaten des IGH-Statuts. Dies sind zum einen gemäß Artikel 93 Absatz 1 der Charta der Vereinten Nationen alle UN-Mitglieder und zum anderen solche Staaten, die kein Mitglied der UN sind, aber das Statut ratifiziert haben.

Das Gericht ist nur dann für die Entscheidung eines Falles zuständig, wenn alle beteiligten Parteien die Zuständigkeit anerkannt haben. Eine solche Anerkennung kann durch Erklärung für das jeweilige Verfahren, durch Verweis in einem völkerrechtlichen Vertrag oder in abstrakter Form durch eine Unterwerfungserklärung erfolgen. Solche Erklärungen unterliegen allerdings häufig weitgehenden Vorbehalten, wie beispielsweise der im sogenannten Connally-Vorbehalt formulierten Einschränkung der von 1946 bis 1986 geltenden Unterwerfungserklärung der Vereinigten Staaten, dass die Anerkennung der Gerichtsbarkeit des IGH durch die USA nicht gelten sollte für Angelegenheiten, die nach Auffassung der USA der Zuständigkeit ihrer nationalen Gerichte unterliegen würden. Die Entscheidungen sind bindend inter partes, d. h. für die beteiligten Parteien.

Unterorganisationen der Vereinten Nationen können mit jeweiliger Ermächtigung durch die Generalversammlung beim IGH Rechtsgutachten zu relevanten Themen anfordern. Die Generalversammlung oder der Sicherheitsrat der UNO können über jede Rechtsfrage ein Gutachten anfordern. Zwar kam es bis 2003 nur zu 76 Urteilen und 24 Rechtsgutachten, doch war der IGH wesentlich an der Fortentwicklung des Völkerrechts beteiligt.

Deutschland hat 2008 wie bisher 74[4] andere Staaten eine Unterwerfungserklärung[5] abgegeben und kann seitdem in allen völkerrechtlichen Streitfragen einen anderen Staat, der ebenfalls eine solche Erklärung abgegeben hat, verklagen oder selbst von diesem verklagt werden. Vorher war das nur möglich, wenn eine vertragliche Vereinbarung zwischen beiden Parteien bestand, in der der Internationale Gerichtshof ausdrücklich benannt wurde, oder wenn zumindest Einigkeit bestand, den Streit vor ihm auszutragen. Von der Unterwerfungserklärung hat Deutschland Streitkräfteeinsätze im Ausland und die Nutzung deutscher Hoheitsgebiete für militärische Zwecke ausgenommen.[6]

Luxemburg hatte bereits 1930 die Gerichtsbarkeit des StIGH als obligatorisch anerkannt.[7] Hinsichtlich des IGH folgten die Schweiz 1948,[8] Liechtenstein 1950,[9] Österreich 1971.[10]

Der Gerichtshof wendet nach Art. 38 seines Statuts bei seinen Entscheidungen an:[11]

  • die internationalen Abkommen allgemeiner oder besonderer Natur, in denen von den im Streit befindlichen Staaten ausdrücklich anerkannte Normen aufgestellt sind;
  • das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung;
  • die von den zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze.

Die gerichtlichen Entscheidungen internationaler Gerichte und „die Lehren der anerkanntesten Autoren der verschiedenen Völker“ dienen als Auslegungshilfe zur Feststellung der Rechtsnormen. Dazu zählen etwa die Ausarbeitungen der Völkerrechtskommission oder des Institut de Droit international.[12]

Mit Zustimmung der Parteien kann der Gerichtshof den Streitfall auch ex aequo et bono entscheiden.[13][14]

Geschichte

Erste Sitzung des Gerichtshofs nach dem Zweiten Weltkrieg, niederländische Kinonachrichten von 1946

1930 richteten namhafte amerikanische Gelehrte, Juristen und Studenten einen Aufruf an den Völkerbundsrat, in dem sie einen Weltgerichtshof mit dem vielseitigen Juristen John H. Wigmore als Richter vorschlugen.[15] Der Internationale Gerichtshof ging aus dem als Vorläufer von 1922 bis 1946 bestehenden Ständigen Internationalen Gerichtshof (StIGH) hervor. Der Internationale Gerichtshof wurde 1945 gegründet und nahm am 18. April 1946 seine Arbeit auf. Er arbeitet unter der Charta der Vereinten Nationen als „Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen“ (Art. 92). Am 15. Oktober 1946 ermöglichte der Sicherheitsrat mit der Resolution 9 auch Nichtmitgliedsstaaten des Statuts eine Anrufung des Gerichtshofs.

Der 1949 abgeschlossene Korfu-Kanal-Fall, eine Klage Großbritanniens gegen Albanien, war der erste Fall, in dem der Gerichtshof ein Urteil fällte.[16]

Neuere Untersuchungen zeigen, dass die meisten Urteile des Gerichtshofs befolgt werden, auch wenn der Gerichtshof für die Durchsetzung seiner Entscheidungen auf den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angewiesen ist (Art. 94 Abs. 2 der Charta der Vereinten Nationen).Mehrere Staaten haben aber in der Vergangenheit Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs nicht anerkannt oder befolgt, so u. a.:

  • 1971: Die Republik Südafrika verstößt gegen den Beschluss zur Aufgabe der Besetzung Namibias.
  • 1973: Frankreich verstößt gegen eine einstweilige Verfügung der Richter im Zusammenhang mit den damaligen oberirdischen Atomwaffentests auf dem Mururoa-Atoll im Pazifik.
  • Marokko ließ kein Referendum über die staatliche Zugehörigkeit der ehemaligen spanischen Kolonie West-Sahara ausrichten, das jedoch im Gutachten des Internationalen Gerichtshofs von 1975 empfohlen wurde.
  • 1984: Die USA erklären das Gericht im Fall „Militärische und paramilitärische Aktivitäten in und gegen Nicaragua“ für nicht zuständig, da eigene Sicherheitsbelange einer Anerkennung des Urteils entgegenstünden.
  • 2006 hat der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten in der Entscheidung Sanchez-Llamas v. Oregon in ausdrücklicher Abweichung von der Rechtsprechung des IGH im Avena-Fall (Mexiko gegen Vereinigte Staaten) die Anwendung von Präklusionsvorschriften des amerikanischen Rechts bestätigt, die eine Geltendmachung der Verletzung der Pflicht zur Information über konsularischen Schutz gegenüber Ausländern in zweiter Instanz oder in Verfahren vor Bundesgerichten praktisch unmöglich machen.

Bisherige Verfahren

Verfahren vor dem IGH sind recht selten, in den rund 75 Jahren bis zum 29. April 2022 wurden nur 183 Verfahren und Rechtsgutachten in die General Case List eingetragen.[17]

Unter Beteiligung deutschsprachiger Staaten

Deutschland rief den IGH bisher fünfmal an. Im ersten Verfahren (1967–69 unter Beteiligung Dänemarks[18] und der Niederlande[19]) ging es um Schürfrechte im Festlandsockel unter der Nordsee. Im zweiten Fall (1972–74; Gegner war hier Island) wurde über das Fischereiwesen geurteilt.[20] Das dritte Verfahren war der „Fall LaGrand“ gegen die Vereinigten Staaten (1999–2001).[21] Im vierten Verfahren reichte Deutschland 2008 Klage gegen Italien ein, weil Deutschland von italienischen Gerichten zu Entschädigungsleistungen wegen NS-Verbrechen verurteilt worden war. Griechenland war dem Verfahren 2011 beigetreten, da auch griechische Gerichte Deutschland wegen NS-Verbrechen zu Entschädigungen verurteilt hatten, die Vollstreckung dieser Urteile aber nicht in Griechenland, sondern nur in Italien zulässig war. Der Gerichtshof erkannte 2012 eine Verletzung der Immunität Deutschlands durch Italien – auch wegen der Vollstreckung der griechischen Forderungen. Italien wurde darüber hinaus vom IGH dazu verurteilt, die Gerichtsentscheidungen, die gegen Deutschland ergangen waren, außer Kraft zu setzen.[22] Das fünfte von Deutschland initiierte Verfahren (2022) hat wieder italienische Gerichtsentscheidungen bezüglich von Deutschland zu leistender Entschädigungszahlungen zum Gegenstand. Deutschland sieht seine Staatenimmunität verletzt, da italienische Gerichte auch nach dem IGH-Urteil von 2012 weiterhin Ansprüche gegen die Bundesrepublik anerkannten und Zwangsvollstreckung in deutsches Eigentum in Italien, insbesondere in Grundstücke deutscher Institutionen wie des Goethe-Instituts, drohe.[23] Ein zusammen mit der Klageschrift von Deutschland eingereichter Antrag auf Eilmaßnahmen wurde aufgrund einer seitens Italien vorgenommenen Gesetzesänderung zwischenzeitlich zurückgenommen, während das Hauptverfahren derzeit noch weiterläuft.[24]

Als beklagte Partei war Deutschland bisher zweimal an Verfahren beteiligt. 1999–2004 ging es um den Kosovo-Konflikt.[25] Gegenstand der 2001 vom Fürstentum Liechtenstein eingereichten Klage[26] war der Umgang mit liechtensteinischem Vermögen auf dem Territorium der früheren Tschechoslowakei, das im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg als deutsches Auslandsvermögen behandelt und zur Begleichung deutscher Kriegsschulden genutzt worden sei. Das Verfahren endete 2005 mit der Entscheidung, dass die Ansprüche Liechtensteins nicht gegen Deutschland zu richten seien. Der während des Verfahrens am Gerichtshof amtierende deutsche Richter Bruno Simma nahm wegen persönlicher Befangenheit nicht an der Entscheidung teil, da er zuvor als Rechtsberater der deutschen Regierung in diesem Fall tätig war. Anstelle von Simma war Carl-August Fleischhauer, der bis 2003 am Gericht gewirkt hatte, in diesem Verfahren Ad-hoc-Mitglied des Gerichts.

Daneben beteiligte sich Deutschland als (Dritt-)Intervenient nach Art. 63 des Statuts am Verfahren der Ukraine gegen Russland im Zusammenhang mit dem russischen Überfall 2022[27] und kündigte im Juli 2022 ebenso als Intervenient am Verfahren Gambia gegen Myanmar (Völkermord-Fall Rohingya) teilnehmen zu werden.[28]

Liechtenstein war bisher an zwei[29] und die Schweiz an drei[30] Verfahren beteiligt. Österreich und Luxemburg sind vor dem IGH noch nicht in Erscheinung getreten.

International bedeutsame Fälle

Mitglieder

Die 15 Richter des Gerichts, die alle unterschiedlicher Nationalität sein müssen, werden gemeinsam von der UN-Generalversammlung und dem UN-Sicherheitsrat für eine Amtszeit von neun Jahren gewählt, wobei eine spätere Wiederwahl möglich ist. Die Amtszeit der Richter endet am 5. Februar des angegebenen Jahres. Bei der Wahl achten die Staaten auf eine vorher in Form von Verständigungen festgelegte geografische Repräsentation der fünf Weltregionen. Das bedeutet, dass nach einer bestimmten Rotation freie Richterstellen durch Kandidaten aus einer Region besetzt werden. Alle drei Jahre wird ein Drittel der Richter neu gewählt. Bei ihrer Rechtsprechung vertreten die Richter nicht ihr Land, sondern müssen völlig unabhängig urteilen. Maßstab ist das Völkerrecht.

Wenn bei einem Rechtsstreit kein Staatsangehöriger eines beteiligten Staates Mitglied des Gerichts ist, kann auf Antrag ein von diesem Staat vorgeschlagener Richter ad hoc am Verfahren teilnehmen. Dann erhöht sich die Anzahl der Mitglieder auf bis zu 17.

Seit dem 6. Februar 2021 gehören dem Internationalen Gerichtshof folgende Richter an:

Die Leitung der Geschäftsstelle und der Verwaltung des Internationalen Gerichtshofes und damit die administrativen Zuständigkeiten obliegen dem Kanzler (englisch Registrar). Dieses Amt hat seit August 2019 der belgische Jurist Philippe Gautier inne.

Präsidenten und Präsidentinnen

Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs
Nr.NameHeimatstaatAmtsantrittEnde der Amtszeit
1José Gustavo Guerrero (1876–1958)El Salvador  El Salvador19461949
2Jules Basdevant (1877–1968)Frankreich 1946  Frankreich19491952
3Arnold Duncan McNair (1885–1975)Vereinigtes Konigreich  Vereinigtes Königreich19521955
4Green H. Hackworth (1883–1973)Vereinigte Staaten 48  Vereinigte Staaten19551958
5Helge Klæstad (1885–1965)Norwegen  Norwegen19581961
6Bohdan Winiarski (1884–1969)Polen 1944  Polen19611964
7Sir Percy Claude Spender (1897–1985)Australien  Australien19641967
8José Luis Bustamante y Rivero (1894–1989)Peru  Peru19671970
9Sir Muhammad Zafrullah Khan (1893–1985)Pakistan  Pakistan19701973
10Manfred Lachs (1914–1993)Polen 1944  Polen19731976
11Eduardo Jiménez de Aréchaga (1918–1994)Uruguay  Uruguay19761979
12Sir Humphrey Waldock (1904–1981)Vereinigtes Konigreich  Vereinigtes Königreich19791981
13Taslim Olawale Elias (1914–1991)Nigeria  Nigeria19811985
14Nagendra Singh (1914–1988)Indien  Indien19851988
15José María Ruda (1924–1994)Argentinien  Argentinien19881991
16Robert Yewdall Jennings (1913–2004)Vereinigtes Konigreich  Vereinigtes Königreich19911994
17Mohammed Bedjaoui (* 1929)Algerien  Algerien19941997
18Stephen M. Schwebel (* 1929)Vereinigte Staaten  Vereinigte Staaten19972000
19Gilbert Guillaume (* 1930)Frankreich  Frankreich20002003
20Shi Jiuyong (1926–2022)China Volksrepublik  Volksrepublik China20032006
21Rosalyn Higgins (* 1937)Vereinigtes Konigreich  Vereinigtes Königreich20062009
22Hisashi Owada (* 1932)Japan  Japan20092012
23Peter Tomka (* 1956)Slowakei  Slowakei20122015
24Ronny Abraham (* 1951)Frankreich  Frankreich20152018
25Abdulqawi Ahmed Yusuf (* 1948)Somalia  Somalia20182021
26Joan E. Donoghue (* 1956)Vereinigte Staaten  Vereinigte Staaten2021amtierend

Literatur

(chronologisch geordnet)

  • Hans Wehberg: The Problem Of An International Court Of Justice. At The Clarendon Press, Oxford 1918 (Digitalisat im Internet Archive, englisch).
  • Arthur Eyffinger, Arthur Witteveen, Mohammed Bedjaoui: La Cour internationale de Justice 1946–1996. Martinus Nijhoff Publishers, Den Haag/London 1999, ISBN 90-411-0468-2 (französisch).
  • Shabtai Rosenne: The World Court: What It is and How It Works. 6. Auflage. Nijhoff, Leiden 2003, ISBN 90-04-13633-9 (englisch).
  • Constanze Schulte: Compliance with Decisions of the International Court of Justice. Oxford University Press, Oxford 2004, ISBN 0-19-927672-2 (englisch).
  • Moritz Karg: IGH vs. ISGH. Die Beziehung zwischen zwei völkerrechtlichen Streitbeilegungsorganen. Nomos, Baden-Baden 2005, ISBN 3-8329-1445-5.
  • Andreas Zimmermann u. a. (Hrsg.): The Statute of the International Court of Justice – A Commentary. Oxford University Press, Oxford 2006, ISBN 0-19-926177-6 (englisch).
  • Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hrsg.): Der Internationale Gerichtshof (IHG). (= UN Basis-Informationen, Nr. 38). DGVN, Berlin 2007, ISSN 1614-5453 (PDF).
  • Karin Oellers-Frahm: Die einstweilige Anordnung in der internationalen Gerichtsbarkeit. Berlin, 2011. ISBN 978-3-642-66032-0.
  • Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hrsg.): Charta der Vereinten Nationen und Statut des Internationalen Gerichtshofs. DGVN, Berlin 2016, S. 69–99 (PDF).

Weblinks

Commons: Internationaler Gerichtshof – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

52° 5′ 11,8″ N, 4° 17′ 43,8″ O